Wenn Du heute am Anfang der Kottmüllerallee vor dem Münter-Haus in Murnau stehst, ahnst Du vielleicht nicht, dass hinter den Fenstern des Hauses Kunstgeschichte geschrieben wurde. Stefanie Schröders Romanbiografie Im Bann des Blauen Reiters lässt uns genau dorthin blicken – in die Murnauer Jahre von Gabriele Münter, als sie hier nicht nur malte, sondern eine ganze Kunstrichtung mitprägte. Ich habe die Ausgabe von 2014 aus dem Herder Verlag für Dich gelesen.
Münter und Kandinsky fanden 1908 auf einer Reise nach Murnau mehr als nur ein hübsches Feriendorf. „Wir wohnten im Griesbräu, und es gefiel uns sehr“ (S. 69), erinnert sich Münter im Buch. Bald folgte die tiefe Verbundenheit mit Ort und Landschaft. Schon „beim ersten Gang habe sie gespürt, wie wohl sie sich in Murnau fühlte und wie gut sie hier schaffen könnte“ (S. 71).
Wer das Blaue Land kennt, versteht, warum die Farben Münters leuchteten wie nie zuvor: „kräftiges Grün und starkes Gelb, unwahrscheinliches Blau und knalliges Rot“ (S. 71) – Farbflächen, klar getrennt, wie das Licht es vorgab.
Murnau war nicht nur Rückzugsort, sondern Experimentierfeld. Hier entstanden zwischen 1908 und 1911 die entscheidenden Werke, die den Weg zum „Blauen Reiter“ ebneten. Die Künstlergruppe – um Kandinsky, Münter, Franz Marc und August Macke – stellte in Frage, was die Kunstakademien lehrten. Statt akademischem Regelwerk suchten sie das Ursprüngliche, das Ausdrucksstarke.
Der Name „Der Blaue Reiter“ war mehr als poetisch: Er spiegelte ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihre Liebe zu intensiven Farben (Blau galt als geistige Farbe) und ihre Vorliebe für das Reiten – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: hinaus ins Unbekannte. Murnau lieferte ihnen dafür das perfekte Motiv: leuchtende Häuser, klare Bergsilhouetten, ein Himmel, der nie gleich aussah.
Hier wurden auch Techniken erprobt, die heute selbstverständlich wirken – das Auflösen von Perspektive, das Flächige, das expressive Farbspiel. Schröder zeigt, wie Münter und Kandinsky dabei voneinander lernten – und sich manchmal auch künstlerisch rieben.
In Murnau entdeckte Münter das, was Kandinsky später zur Revolution in der Malerei führte: „Ursprüngliches war das, Kunst ohne akademischen Drill! Die Maler begeisterten sich. Brauchtum des Volkes!“ (S. 75). Hier wagte sie auch Neues: „Ich war in Murnau in unserm Kreis die Erste, die Glasscheiben nahm und auch was malte“ (S. 76). Ihre Glasbilder – anfangs Kopien, später eigenständig – waren mehr als Dekoration. Sie waren ein Bekenntnis zur Volkskunst, ein Dialog zwischen Tradition und Moderne.
Münter betrachtete das Alpenvorland mit unerschöpflicher Freude: „Nie wurde sie der Betrachtung der Alpenvorlandschaft müde“ (S. 76). In Murnau entstand „Der blaue Berg“ (S. 77), ein Werk, das ihre Vorliebe für flächige Komposition und intensive Farbe zeigt. „Bei mir ist es fast immer ein Mitgehen der Linie – Parallele – Harmonie“ (S. 78), erklärte sie, während sie bei Kandinskys „Kirchhügel in Murnau“ genau das Gegenteil entdeckte – ein künstlerischer Dialog in Farbe und Form.
Schröder schildert die Beziehung zwischen Münter und Kandinsky ohne Pathos, aber mit Wärme. Es war eine Partnerschaft, in der gegenseitige Anregung und künstlerische Konkurrenz nebeneinanderstanden. Kandinsky selbst sagte: „Durch Dich werde ich zu etwas Großem kommen“ (S. 80). Murnau war für beide nicht nur Ort der Inspiration, sondern auch ein Zuhause – zeitweise sogar ein Rückzugsort vor der Münchner Kunstszene.
Wer Murnau liebt, wird beim Lesen innehalten und denken: Genau so ist es hier. Nur dass ich es nie so schön sagen konnte.
Als Einwohner von Murnau am Staffelsee schreibe ich hier über meine Erlebnisse, Erfahrungen und Geschichten im Blauen Land.