Vom Blauen Land und seinem Nachthimmel

Weimarer Renaissance?
Kommt jetzt ein Dexit?
Gleichheit, eine demokratische Zumutung?

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken zu den letzten vier Wochen.

Ödön sitzt schon auf unserer Bank, träumt sich weg in den blauen Himmel. Der Sommer ist wieder da. Ich wedle mit dem Tagblatt. „Aktion mit Symbolkraft: Garmisch-Partenkirchner Kreistag lehnt AfD – Nachrücker ab.“ Kommt dir das nicht bekannt vor? Ödön zuckt hilflos seine Schultern „Immer dasselbe Denken: Weimarer Renaissance. Eine Analogie der heutigen Zeit mit der Weimarer, das ist doch historisch nicht haltbar. Weimar, das war sicher keine Demokratie ohne Demokraten. Ich habe in der Zeit gelebt. Woran ist aber die Demokratie gescheitert? An der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Das ist kein Witz. Das hatte der listige NS-Propagandaminister Joseph Goebbels klug erkannt.“

Das hatten die dreißig Experten aus Jurisprudenz und Politik im August vor 75 Jahren auf Herrenchiemsee ebenso klug erkannt und markant dagegen formuliert: Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Daraus wurde, leicht verändert, der erste Satz im Grundgesetz. Die Weimarer Verfassung formulierte als ersten Satz „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Und wie man Volk definieren, manipulieren und wohin man es führen kann, das haben wir nach Weimar gesehen. 75 Jahre galt der erste Satz des Grundgesetzes als selbstverständlich. Der Staat hat dem Menschen zu dienen. In seinem Menschsein liegt sein Wert, nicht in seinem Nutzen. Also, Menschenwürde steht jedem zu. Sie ist aber auch die Aufgabe einer Gemeinschaft, eines Staates, ihr gerecht zu werden.

Warum ist das heute nicht mehr selbstverständlich? Ödön wiegt den Kopf. „Vielleicht weil ihr heute in Europa in einer Demokratie lebt, ich pauschalisiere mal, die vor allem die eigene Integrität sichern will. Ihr sprecht viel und vor allem von illegaler Migration.“ Aber Migration, Ödön, das ist doch das Menschenrecht unseres Jahrhunderts. Da sind wir wieder bei der AfD. 20% hat sie inzwischen bei Umfragen, die zweithöchste Zustimmung. Für die Europawahlen im nächsten Jahr haben sie gerade jetzt auf ihrem Parteitag statt 30 sogar 35 Plätze auf ihrer Wahlliste mit Kandidaten besetzt. So stark fühlen sie sich. Wird sie jetzt zur Volkspartei? Kommt jetzt ein „Dexit“?

„Hör mal, was der zu sagen hat.“ Ödön holt sich den neuen ZEIT-Redakteur und Buchautor Nils Markwardt auf unsere Bank. „Gesellschaften werden durch Erzählungen erzeugt, zusammengehalten und entzweit. Üblich sind zwei Erklärungen. Einmal dreht es sich um das Was, hier also die Programmatik der AfD. Das heißt also Grenzen dicht machen, die EU radikal umgestalten, keine Waffen mehr an die Ukraine liefern. Zum anderen geht es um das Wie. Sie präsentiert sich als Protestpartei für Unzufriedene. Hier gibt es noch eine dritte Erklärung: Eine spezifische Art des Denkens. Hinter allen großen Phänomenen in unseren Gesellschaften verbirgt sich eine andere, eine verdeckte Wahrheit. Der Krieg in der Ukraine? Ein Stellvertreterkrieg der USA, um neue Waffen zu testen. Corona? Ein biopolitischer Angriff der Systemparteien auf Freidenker. Migration? Eine Umvolkung, großer Begriff im Nationalsozialismus, das deutsche Volk abzuschaffen, es durch Menschen aus allen Teilen der Erde zu ersetzen.“ 

Ja, Ödön, dein Markwardt hat schon was zu sagen. Tatsächlich, Gesellschaften werden durch Erzählungen zusammengehalten, aber auch entzweit.  Wir hören es so oft von unseren Politikern, zuletzt natürlich auf Herrenchiemsee: Die gemeinsame Verantwortung für unsere Demokratie. Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit. Der Philosoph Ernst Tugendhat nannte das die Rede von den leeren Worten.* Wir wissen auch, was würdig für eine Demokratie wäre, aber das letzte ausgehandelte Asylabkommen von Europa gehört sicher nicht dazu. Ödön steht auf, geht unruhig vor der Bank hin und her, schaut prüfend in den Himmel, dann auf mich. „Weiß dein Tugendhat es?“ Ich stelle mich zu Ödön. Er hat zumindest nachgedacht über die zwei Menschheiten, die wir durch unsere Politik schaffen. Es ist ein langer Denkweg, den er gegangen ist, bevor er jetzt im März mit 93 Jahren gestorben ist. An diesem Ende stand die Erkenntnis, dass man nicht allein ist in der Welt. Wenn das Ich nicht mehr so wichtig ist, dann sehen wir auch wieder den anderen.

Ich hole dir eine Verfassungsrechtlerin auf die Bank, Sophie Schönberger. Sie nimmt zwischen uns Platz. „Es gibt zwei große Versprechen, die die Demokratie macht: auf der einen Seite, die demokratische Freiheit und auf der anderen die demokratische Gleichheit. Und die wird heute nicht mehr besonders aufgenommen. Wir idealisieren heute Individualität und Selbstverwirklichung. Ziel ist das bestmögliche Ich. Und Demokratie verspricht uns, dabei zu helfen. Gleichzeitig mutet sie uns zu, dass trotz unserer Einzigartigkeit unsere Stimme im demokratischen Prozess nicht mehr oder weniger ist als jede andere auch.“

Das also ist die urdemokratische Zumutung. Mein Blick fällt auf das Tagblatt, mit dem ich Ödön in die Wirklichkeit zurückbringen wollte. Muss der Kreistag in Garmisch-Partenkirchen den AfD-Nachrücker also aushalten? Immerhin gab es vor drei Jahren bei der Wahl im Landkreis Stimmen für zwei Sitze. Von einem Kreisrat, den niemand wollte, das kann die Presse also nicht schreiben. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Also los auf die Suche nach den anderen. Wo gibt es die banale Ebene, wo ich andere Menschen wahrnehme, die ihre eigenen Probleme oder Vorlieben haben. Ich muss mich ja noch nicht einmal mit ihnen unterhalten oder politisch diskutieren. Sie sind einfach da, zum Beispiel auf einem Spielplatz, im Schwimmbad, auf einer Wiese im Park. Ich gehe in die Bücherei, treffe dort andere Menschen bei der Auswahl auf dem Büchertisch, am Buchregal. Ich erlebe kleine demokratische Gemeinschaften, ich ertrage demokratische Zumutungen.

Vielleicht heute Abend bei der Bergwirtschaft Guglhör? Beim schönsten Meteor-Regen des Jahres: Die Perseiden kommen. Die Erde ist in Unordnung. Der Nachthimmel dagegen bietet verlässlich alljährlich vom 12. auf den 13. August ein traditionelles Maximum mit mehr als hundert Sternschnuppen pro Stunde. In diesem Jahr gibt es sogar zwei Perseiden-Nächte. Sogar der Mond stört nicht unser Wunschkonzert, denn er taucht erst in den frühen Morgenstunden über dem Horizont auf. An zu erfüllenden Wünschen wird es uns Erdenkinder sicher nicht fehlen.  Kommst du mit, Ödön? Oder danach an die Ostsee? Statt auf der demokratischen Seidlbank ein Treffen in einem gemieteten Strandkorb? Du bevorzugst aber wohl die demokratische Zumutung an einem Gipfelkreuz Servus, Ödön, bis Oktober.

* Ernst Tugendhat, Ethik und Politik, Suhrkamp-Taschenbuch, 139 Seiten, auf suhrkamp. de für 14 Euro zu bestellen. Oder über die Fernleihe unserer Gemeindebücherei anfragen.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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