… Wildes Menschenwerk … Krisenübergreifende Synergien … Das Geheimnis Ostern
Ödön auf der Seidlbank
Ja, Seidl, endlich wieder mal auf deiner Bank. Den Hut zurückgeschoben, schaue ich in einen wilden Himmel. Erinnert mich an Wolkenbilder vom Knipser, im Untermarkt zu kaufen. Fette dunkle Wolkenhaufen. Vom Wind zerfetzt, Chancen für Sonnenlöcher, knallig ihr Licht. In ihrem Blau segeln sanfte weiße Wolkentupfer.
Viel los, da oben in der Troposphäre, der Wetterküche des Planeten. Der Wettermann im Fernsehen kann es klug mit Polarwirbel, Jetstream und Hochs, die sich rechts, Tiefs, die sich nach links drehen, erklären. Himmel wie Erde? Wer erklärt den geschundenen Planeten, das Menschenwerk seiner Krisen? Artensterben, Klimawandel, Corona, Krieg, Hunger, Massenflucht aus Ost und Süd. „Die Zeit ist aus den Fugen“. Recht hast du, Hamlet.
Trotzdem hole ich nicht dich auf die Bank, erwarte mehr von Bernd Ulrich. Er hat ein Buch geschrieben, 2015. „Sagt uns die Wahrheit! Was die Politiker verschweigen und warum“. Was wäre die Wahrheit? Es gibt kein Zurück zur Normalität, Ödön. Die Krisen sind so eng verzahnt wie die sich reibenden Hochs und Tiefs, die dein Wettermann nannte und die mal kalte, mal warme Luft in unsere Landschaft pumpen. Auch das nächste Milliardenpaket wird nichts heilen. Aber dann auch nicht die demonstrativ ins Fernsehbild gehaltene Inschrift einer Kaffeetasse „Alles wird gut“.
Nachdenklich greife ich zum Tagblatt, erinnere mich an seine Schlagzeilen in den letzten Wochen. Borscht & Suppe-Aktion. 4Eck spendet Tageseinnahmen. Mit Flohmarkt und Konzerten 600 Euro gesammelt. Heimlich Bilder gemalt und verkauft. Frauenbund beweist Solidarität. Die Schlagzeilen zeigen auf die Quelle der Demokratie: Das Volk. Die Menschen werden kreativ, finden Lösungen, wenn sie erkennen, wie groß das Problem ist, die Aufgabe, wie schwierig die Situation, in der sie im Augenblick steht. Kreativität als Fluchttier der Fantasie. Wie war das mit deinem „Verschönerungsverein“, Emanuel? Ich klopfe auf die Bank, auf der wir sitzen, stupse Bernd Ulrich neben mir an. Er sprudelt los.
„Ja, krisenübergreifende Synergie, Gesellschaftsschichten übergreifende Projekte. Schau auf diese Kette: Die Abkehr von den fossilen Energien führt dazu, dass wir nicht länger das Klima zerstören. Gleichzeitig beenden wir damit, dass wir die Petrodiktaturen finanzieren, die sich militärisch gegen die Demokratien richten. Menschengerechte Städte entstehen durch die Energiewende. Das erhöht den Gesundheitszustand der Menschen, ihre Resilienz. Sie werden widerstandsfähiger, auch gegen Viren. Das vermindert Freiheitseinschränkungen. Ohnehin werden Pandemien dann wieder seltener, wenn wir nicht in die letzten Urwälder eindringen, weil wir die Massentierhaltung beenden, was auch wieder der Gesundheit dient und auch das Artensterben beendet.“
Geblendet vom Feuerwerk der Synergien im Albtraum der Krisen stupse ich Bernd Ulrich von meiner Seidlbank. Ich stehe auf, die Schlagzeilen aus dem Tagblatt im Kopf. Gesellschaftsübergreifende Projekte. Sicher, es gibt viele Möglichkeiten, den vom Krieg Betroffenen zu helfen. Diese Hilfe kann das Leid lindern. Verhindern kann sie es nicht. Oder doch? Und schon ist nichts mehr eindeutig. Der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine ist ein Verbrechen und durch nichts zu rechtfertigen. Und der in Jemen? Der in Syrien? Auch der in Afghanistan? Relativiere ich jetzt, statt zu eindeutigen Bekenntnissen zu stehen? Ingo Schulze hat das gefragt. Ich kann mich retten, was ich da schreibe ist ja Literatur, und Literatur kann Widersprüche nebeneinanderstehen lassen.
Ich stottere meine nächsten Sätze in die Tastatur. Den Krieg in Europa ächten, aber was ist mit denen im Rest der Welt? Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Irakkrieg und seine Folgen schweigen? Einem europäischen Wertekanon huldigen, aber wo ist er auf dem Mittelmeer? Bekennen, wie man sich in Putin getäuscht hat, aber anderen Autokraten mit ihren Machtvisionen die Hand schütteln? Ohnmacht. Schuld. Verzweiflung.
Mir wird kalt. Ich gehe ins Gewoge des Palmmarkts. Ja, es gibt ihn wieder, nach zwei Jahren. Seine Anziehungskraft ist groß. Nicht nur für die Murnauer und die Region. Die zu hörenden Dialekte bestätigen die Behauptung. Und da zurzeit, wie zu lesen war, auch zehn neue Gästeführer ausgebildet werden, so hofft der Ödön in mir, dass neben den zwei Adern der Markt- und Kramer-geschäfte auch das Kulinarische und das Kulturinarische nicht zu kurz kommen.
Auch die fallenden Inzidenzwerte im Landkreis hat der Palmmarkt nicht ins Schwanken gebracht. Ja, nach zwei Jahren und trotz Impfung kann das Coronavirus durchaus auch noch nervös machen. Das zeigt sich auch in einem Brief einer anonymen Gruppe besorgter Bürger aus Oberammergau an den Ministerpräsidenten. Mutig? Drei Wochen vor der Eröffnung der Passion. Dreist? Eine Gesellschaftsschicht übergreifendes Projekt ist sie doch, aber das Fluchttier Fantasie hat sich hier wohl einfallslos verrannt. Da zeigen die vier 40-Tonner der Aktion „Das Blaue Land hilft“ eine kreativere Lösung. Ein wilder Himmel über dem wilden Menschenwerk. Und das zu Ostern, dem größten Fest der Christen. Aber nicht groß genug, um nicht wenigstens eine Feuerpause zum orthodoxen Osterfest zuzulassen. Den Krieg als heilig überhöhen. Jetzt sitzen die Orthodoxen im goldenen Käfig der Macht, statt sich der Humanität der Gesellschaft zu widmen.
Ein schwerfassbares Geheimnis dieses Ostern, gerade jetzt, wo zu den apokalyptischen Reitern nun auch noch der Krieg gekommen ist. Das Osterlachen bleibt da im Hals stecken. Da bleibe ich bei Pfarrer Bracker in der Fußgängerzone stehen, schnuppere an seinem Gottvertrauen. „Wir brauchen 2022 eine andere Osterbotschaft. Schau auf die drei Frauen am leeren Grab. Es trifft sie völlig unvorbereitet. Unglaubliches ist geschehen. Kein Stein mehr vor dem Grab, kein Stein mehr auf dem anderen in ihrer Welt. Sie damals vor 2000 Jahren und wir heute sehen nur die Katastrophe, den Schmerz, das Leid. Unsere Lebensweise ist an ein Ende gekommen. Den neuen Weg erkennen wir noch nicht. Ostern ist Gottes Weg aus der Ausweglosigkeit“. Sagt’s und verschwindet.
Ich tapse hoch zum Griesbräu, will eine Karte kaufen fürs Bauerntheater. Endlich, wir brennen, es darf wieder gespielt werden, steht auf seiner Homepage. Und was spielen sie? „Dümmer als die Polizei erlaubt“. Gilt das für unsere Zeit? Ödön, in mir, dazu hast du doch auch was geschrieben in deinem Walsertanz am Abgrund, deinen „Geschichten aus dem Wienerwald“: Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit. Nun bin ich gespannt auf den 9. Mai.
Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.