Am Rand des Sommers

Von der Macht der Literatur
Über das langfristige Denken

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken zu den letzten vier Wochen

Schau mal, Ödön, was ich gestern gelesen habe. Es hat mich an dich erinnert. Die Dummheit der Menschen rührt daher, dass sie auf alles eine Antwort wissen. Die Klugheit des Romans aber rührt daher, dass er auf alles eine Frage weiß.

Milan Kundera hat das geschrieben, ein Tscheche. Weil er zu viele Fragen stellte, nach dem Prager Frühling auch nichts mehr veröffentlichen konnte, nutzte er eine Einladung nach Frankreich. Er erkannte und bekannte: Das Leben ist anderswo. Er landete in Paris. Ich zwar auch, aber ziemlich endgültig. Ich wäre gern in Murnau, in Berlin geblieben. Doch mein Kampf gegen die Dummheit hat das nicht zugelassen. Hier ein Beispiel aus einem meiner Sportmärchen, die Geschichte vom Hürdenlauf. „Gleich soll das Rennen beginnen. Start und Ziel plaudern miteinander. Es sagt das Ziel: Stände ich nicht hier___wärest du ziellos. Und der Start sagt: Das ist schon richtig: doch denke, wäre ich ziellos___was dann? Das wäre mein Tod. Da lächelt der Start: Jaja___so ist das Leben, Herr Vetter!“

Sehr hintersinnig, Ödön. Ob aber das Jaja im Hürdenlauf des Lebens, ob das Jaja als Formel der alltäglichen Dummheit erkannt wird? Für Literatur als eine intelligente Form der Warnung vor den Gefahren der Gegenwart, für Kurztexte, die den Zeitgeist nicht nur beschreiben, sondern auch hinterfragen, dafür gibt es, lieber Ödön, seit 2018 sogar einen Literaturpreis. „Schwankende Kanarien“* hat ihn in diesem Jahr gewonnen. Judith Schalansky wurde mit ihrem Essay mit dem WORTMELDUNGEN – Literaturpreis ausgezeichnet.

Der Kanarienvogel, der im 19.Jahrhundert die Bergarbeiter in ihren Schächten vor dünner werdender Luft warnte, wird zur großen Metapher. Fallen die Vögel von ihren Stöckchen, ist es für die Menschen fast schon zu spät. Wir leben in einer Zeit schwankender Kanarien. Der Klimawandel und der damit verbundene Verlust des ökologischen Gleichgewichts führen dazu, dass unserem Planeten die Luft ausgeht. Wo Kanarienvögel schweigen, ist Gefahr. Wo Gefahr ist, darf die Literatur nicht schweigen.

Ödön nickt zustimmend. Fünfunddreißigtausend Euro für einen kritischen Kurztext, der den Zeitgeist hinterfragt und einen Verlag, der ihn veröffentlicht, das hätte ich mir auch gewünscht. Dann wollen wir, Ödön, „Friday for Future“ bei ihrer nächsten Demonstration empfehlen, Masken von Kanarienvögeln zu tragen und die 72 Seiten einzeln unter der Bevölkerung zu verteilen, um dem Small Talk über das Wetter eine neue Dimension zu geben. Ja, zum 13. globalen Klimastreik ist die Jugendbewegung wieder in 250 Städten auf der Straße, schreibt frech der Politik aufs Betttuch „Die Welt brennt und ihr pennt!“ Schon in Murnau waren es über Hundert, die zur Musik von „Beds are burning“, dem alten Song von Midnight Oil vom Gymnasium durch den Markt zogen.

Ja, wie können wir tanzen, wenn unsere Erde sich dreht? Wie schlafen, wenn unser Bett brennt? Laut will sie sein, die Jugendbewegung, war sie auch, 245 000 waren es an diesem Freitag, dem 15.September in Deutschland. Wie viele waren es am Weltkindertag 2023, fünf Tage später? Ändert sich Politik unter dem Druck von außen? Ich sehe, denkt Ödön laut vor sich hin, wenn ich auf eure globalen Welttage schaue, dass es die Generationen sind, die sich verbinden, also die Menschen. In meiner Zeit waren es mehr die Parteien, die mit ihren Programmen, auch ihren Ideologien auf die Straße gingen. Mag sein, Ödön. Beim Weltkindertag zumindest war es die Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen, die viel Geschmähte, die auf ihrer Vollversammlung 1954, den Weltkindertag beschloss. Seine Ziele: Die Rechte der Kinder formulieren. Die Freundschaft unter den Kindern und Jugendlichen fördern.

Das Deutsche Kinderhilfswerk hat dann den von Deutschland gewählten 20. September benutzt, um an diesem Tag an vielen Orten der Republik ein Kinder- und Familienfest zu feiern und dabei auch politische Forderungen zu erheben. So umringt eine Berliner Schulklasse die Bundesfamilienministerin vor dem Bundeskanzleramt und singt „Ich habe lange gebraucht zu verstehen, so kann es nicht weitergehen“. In einem Workshop erarbeitete die Klasse eine neue Fassung des Songs der Band Glasperlenspiel „Geiles Leben“. Was wir da an Wünschen, Hoffnungen und Sorgen hören, geil scheint ihr Leben nicht zu sein, geil auch nicht ihre Zukunft, auf die sie zum Weltkindertag 2023 aufmerksam machten.

So kann es wirklich nicht weitergehen. Ödön, wir müssen über Kinder reden. Ich habe über sie geschrieben. Du meinst „Jugend ohne Gott“? Da hast du gezeigt, wohin Anfänge führen können. In den Holocaust. In einen Weltkrieg. Anfänge können aber auch Zukunft retten, mein Lieber. Von den Anfängen herdenken. Überhaupt, langfristiger denken. Im dreißigjährigen Krieg, da gab es einen, der war Theologe, Pädagoge, Philosoph, alles in einem. Johann Amos Comenius hieß er. Er hat radikal über neue Anfänge nachgedacht. Ein Satz nur: “Aus jedem Menschen kann ein Mensch werden, wenn nicht einer auftritt, der die Sache verdirbt.“ An eine ganz andere Schule hat er gedacht und dafür die Qualität eines Lehrers beschrieben, der das Menschwerden nicht verdirbt. „In seinem Unterricht braucht er weniger zu lehren und die Schüler lernen dennoch mehr, weil sie mehr Freiheit haben und mit Vergnügen ihre Neugier befriedigen dürfen.“

Ja, Ödön, Menschen zur Menschlichkeit erziehen. Das hat dann Jean Jacques Rousseau aufgegriffen und danach Maria Montessori. Dafür kannst du heute nur bitteres Auflachen in den Schulen ernten. Um zu einer ganz anderen Schule zu kommen, da brauchst du 2023 einen Bildungsprotesttag mit 25 000 Demonstranten in 29 Städten und 16 Bundesländern. Und ein Sondervermögen, das ehrlicher Sonderhaushalt hieße von einhundert Milliarden, genau so viel wie die Bundeswehr. Die zähe Wirkung dort zeigt, wie gewaltig Politik und Verwaltung im Bund und in den Ländern umsteuern müssen, um nachhaltige Wirkungen zu erreichen.

Bedenke, es gab ja schon 2008 einen Bildungsgipfel. Der beschloss, zukünftig 10% des BIP, also des Bruttoinlandsprodukts, für Bildung und Forschung auszugeben. So viel sollte es wert sein, Menschen nachhaltig zu Menschlichkeit zu erziehen. Es geht also um eine Bildungswende, nicht darum, Schadstellen zu flicken. Ödön schmunzelt. Nachhaltig, das scheint ein Lieblingswort geworden zu sein, leicht in jeden Satz einzubauen. Zu meiner Zeit benutzten nur Förster und Forstbeamte das Wort. Der Bergbau brauchte Holz für seine Stollen. Der Wald musste es liefern, also dafür gepflegt werden. Ödön, als Greta Thunberg am 20. August einen „Schulstreik für das Klima“ ausrief, kompromisslos und scharf, wir alle wussten, klar, unser Verbrauch von Ressourcen ist für die Biosphäre untragbar. Dass Gretas Aufruf dann mit „Fridays for Future“ auch das politische Handeln veränderte, zeigte, dass die individuellen Entscheidungen auch kollektiv bindend sind.

Ich hole mal Felix Heidenreich, den Philosophen auf unsere Bank. Von ihm ist gerade „Nachhaltigkeit und Demokratie“ erschienen.** „Sie sind auszusöhnen, diese Begriffe. Angeblich besteht ein Widerspruch zwischen individueller Freiheit und kollektiver Selbstbeschränkung. Ich greife zur Demokratietheorie. Der Liberalismus feiert die ungebundene Freiheit, für den Republikanismus ist Freiheit eine kollektive Selbstbindung, Demokratie heißt dann nicht, einem Minimum von Regeln unterworfen zu sein. Demokratie verlangt dann auch, sich als Selbstbindung zu verstehen.“ Ödön, weiterdenkend: Nachhaltigkeit verwandelt also eine fossile Demokratie in eine Klima-Demokratie. Kann ich das so sagen?

Dann wäre es doch gut Ödön, wieder zu deinem Gedanken der Anfänge zu kommen. Langfristig Denken. Was wir heute als Gesellschaft tun, das wirkt doch auf unzählige zukünftige Generationen. In „Was wir der Zukunft schulden“ schrieb der schottische Philosoph MacAskill, dass wir heute Lebende, bezogen auf die Lebensdauer der Menschheit, der Antike angehören. Wir leben am Anfang der Geschichte. Wenn wir das Denken, müssten wir doch ein wirklich gut durchdachtes Kinderwahlrecht entwickeln. Kinder machen viel Schmarrn. Und Erwachsene? Kriege, Atombomben, gründen rechtsextremistische Parteien. Der schlimmste Schmarrn wurde bisher doch von ihnen veranstaltet.

Am Rand des Sommers, beim Übergang zum Herbst, gehen wir nach drinnen, in unser Inneres. Was werde ich am folgenden Rand des Sommers, am Ende des Frühlings im nächsten Jahr schreiben, was werden Sie am 3. April 2024 lesen?


Werde ich immer noch einmal im Monat in das Gewand von Ödön von Horváth schlüpfen
und mich auf die Seidlbank setzen? Schmarrn?

Kein Schmarrn, die beiden Lektürehinweise zumindest in die Hand zu nehmen, zum Beispiel in der Buchhandlung Gattner oder in der Gemeindebücherei über die Fernleihe.

* Judith Schalansky, Schaukelnde Kanarien, Verbrecher Verlag, 2023, Reihe Wortmeldungen Band 4, 72 Seiten, 14€
** Felix Heidenreich, Nachhaltigkeit und Demokratie. Suhrkamp Verlag, 2023, suhrkamp taschenbuch 2388, 243 Seiten, 20€

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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