Mal wieder Laurentiustränen
Nachricht vom Kometen Swift-Tuttle
Ein Stapel von Krisen und ihre Folgen
Ödön auf der Seidlbank
Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen
Es ist viel passiert in diesem August, lieber Ödön. Viel Sport, viele Staus, viele Touristen, viel Krieg, viele Laurentiustränen. Fangen wir damit an. Der Neumond, gerade vorbei, die Sternschnuppen hatten also keinen Lichtkonkurrenten, und auch die zerfetzte Wolkendecke war uns freundlich gesonnen. Sie wussten, unsere Wunschliste ist lang.
Haben sie dir geholfen, mein Lieber, die Perseiden? Wir quasseln zu viel, Ödön, selbst, wenn wir den verglühenden Kometenstaub am Nachthimmel bestaunen. Gestaunt habe ich aber, als ich versuchte zu verstehen, wer das Feuerwerk am Himmel verursacht. Der Komet Swift-Tuttle, so heißen die Zwei, die unabhängig voneinander ihn vor genau einhundertzweiundsechzig Jahren entdeckt haben: den eisigen Brocken von sechsundzwanzig Kilometer Durchmesser, der zweieinhalbmal so schwer ist wie der Asteroid, der einmal die Dinosaurier als Erdbewohner auslöschte.
Müssen wir jetzt nervös werden? Das erinnert mich an „Don’t look up“, einen Film, in denen eine Doktorandin und ihr Astronomie-Professor einen riesigen Kometen entdeckten. Freude und Stolz waren riesig. Als sie aber den weiteren Kurs berechneten, brach Panik aus. In sechs Monaten und vierzehn Tagen wird das Ding auf die Erde einschlagen. Auf die Warnung vor der drohenden Gefahr hörte aber keiner. Sie setzten sich wie immer zum Abendessen. Sicher, der Film war eine bissige Satire.
In Deutschland sind sie aber nervös, Ödön. Statt Komet ist es ein Stapel von Krisen. Der beklemmende Klimawandel. Der Krieg in der Nachbarschaft. Der Fastkrieg im Nahen Osten. Die Migranten. Der Rechtspopulismus. Im letzten Bericht des Robert Koch-Instituts zur psychischen Gesundheit der erwachsenen deutschen Bevölkerung wird vermerkt, dass sich Angstsymptome seit 2021 verdoppelt haben. Die Umlaufpläne von Komet Swift-Tuttle sind langfristlich berechnet. Am 15. September 4479 soll er erstmals wieder viermal so nah wie der Mond an die Erde heranrücken.
Ich werde mir das Datum notieren, schmunzelt Ödön. Aber was tun mit unserer Nervosität, mein Lieber? Vielleicht Tee trinken, Ödön. Die Regale aber für Nerventees in den Apotheken, die sind leer, hat Elisabeth von Thadden erkundet. Sie ist in der ZEIT verantwortlich für die Seite Sinn & Verstand. Stattdessen hat sie bei ihrer Recherche zu diesem Thema einen neuen Helfer gefunden: Den Vagus, den Hauptnerv im Parasympathikus. Er ist einer der großen Player in unserem Nervensystem. Er beschäftigt sich mit Entspannung. Sein Gegenspieler ist der Sympathikus, zuständig für die Aktivierung des Menschen, zu Kampf, zu Flucht. Also kein Tee, der Vagus, der zentrale Nerv im Parasympathikus, den kann man sogar selbst heilen: Vier Sekunden tief in den Bauch einatmen, Sechs aus. Probier’s mal, Ödön. Oder lieber die Ohrmuscheln massieren?
Elisabeth von Thadden hat bei ihrer Recherche auch einen Neurologen befragt und einen Psychosomatiker. Sie wollte eine Antwort auf die Frage, ob auch eine ganze Gesellschaft nervös sein kann. Holen wir sie doch auf unsere Bank, Ödön, um das Ergebnis zu hören. „Unsere Gesellschaft ist nervös und das ist nicht schlimm, sondern realitätstüchtig. Sogar klug. Katastrophenrealismus ist kein Grund für eine Krankschreibung. Im guten Fall ist Nervosität einfach ein lebhaftes Wechselspiel von Sympatikus und Parasympatikus. Mehr noch, gerade die Nervosität lässt sich als Zeichen für Offenheit, Wachheit und Aufnahmebereitschaft verstehen – im Gegensatz zur Verdrängung der Wirklichkeit, zur Leugnung dessen, was leider komplizierterweise der Fall ist. Eine Nervosität, die in die Leugnung von Tatsachen umkippt, die aber ist ungut.“ *
Hast du noch mehr Ungutes, mein Lieber? Unsere Gespräche sind doch nicht als Satire gedacht. Ich weiß nicht, Ödön, warum Kurt Kister von der SZ einen Beitrag über den Monat August „Tage wie Honig“ übertitelt hat. Von dem habe ich nämlich unseren Blogtitel frech geklaut.
Wenn ich aber an die Soldatenstiefel denke, die immer wieder gerade im August in fremdes Land einmarschiert sind? Honigtage? Vielleicht weil es nur noch vier Monate bis Weihnachten sind, die Zeit der Auftritte der Honigkuchenmänner? Quatsch. Zähe, träge, aber auch freie, süße Ferientage? Das passt zum August.
Ja, auch wir machen Urlaub. Im September werden wir pausieren, und über die Treffen im Oktober werden wir am 6. November berichten, wenn die Zeiten es zulassen. Warum ich das schreibe? Du hast nach Ungutem gefragt, Ödön. Das möchte ich noch loswerden. Es geht in mir um, und du wirst es verstehen, weil du es ja selbst erlebt hast.
Am ersten Tag im September wird es im Osten Landtagswahlen geben. Bei ihnen ist die Chance groß, dass eine Partei so mächtig wird, dass sie in Regierungspositionen einziehen kann. Die Folgen hast du ja, lieber Ödön, bei dir selbst erfahren.
Oh ja. Als ich damals den Kleist-Preis erhielt, die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik, da konnte ich in einem Interview im Bayerischen Rundfunk zumindest der Beschimpfung widersprechen, ein „Balkanliterat“ zu sein, denn meine Muttersprache ist eine deutsche.
Und so misstraue auch ich einer neu entstehenden politischen Mehrheit, Ödön, in der eine „deutsche Leitkultur“ zum Maßstab werden könnte, das Fremde, der Fremde verbannt werden, Kunst und Kultur nationalisiert, ja regionalisiert wird. Trachten, Sagen, Gedichte statt Hochkultur? Nietzsche, der halbe Pole, Dürer ein halber Ungar? Nur noch biodeutsche Orchester?
Ja, eine liberale Demokratie braucht Garantien für individuelle Rechte, über die ein unabhängiges Verfassungsgericht wacht. Auch eine gewählte Mehrheit in einer Demokratie ist eine Art Mehrheitsdiktatur auf Zeit. Bei mir dachte man an tausend Jahre. Ich habe in einem aktuellen Interview mit einem Philosophen, mit Nida-Rümelin, über die Diktatur der Mehrheit gelesen. ** Dein Unbehagen ist berechtigt, mein Lieber. Komm Ödön, my heart will go on. Ist das nicht der Schmachtfetzen aus dem Titanic-Film?
Ciao, Ödön, bis Oktober.
* Google: Warum so nervös? DIE Zeit vom 8. August 2024
** Google: Eine Diktatur der Mehrheit dürfen wir niemals zulassen, SZ vom 10. August 2024
Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.