Der bestirnte Himmel über mir…

Von den Seidlbänken
Vom Mäzenatentum und Bürgersinn
Von Kants Religionsverständnis

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Wir bleiben auf unserer Seidlbank, Ödön? Natürlich, mein Lieber. So nah an der Bühne des Murnauer Lebens, so gewürdigt zwischen zwei Pflanzkübeln, das geben wir doch nicht auf. Gewürdigt, Ödön? Mit Hingucker hat der Bürgermeister nicht uns gemeint, als er die zwei neuen Seidlbänken an den Rathauswänden begrüßte. Immerhin, mein Lieber, das Geld dafür spendete ein Mäzen dem Verschönerungsverein, es gab einen Schreiner, der sie, wie schon die unsere, nach einem Foto des Originals von Seidl nachbaute, und das Foto kam von einem Gemeinderat. Viel Bürgersinn ist da zusammengekommen.

Murnau, wenn ich nur wieder in Murnau sein könnte, schrieb ich sehnsuchtsvoll an meine Freundin, und das lag nicht nur an ihr. Sicher hast du, lieber Ödön, mit ihr schon auf einer der vielen Bänke gesessen, die der Verschönerungsverein Murnau hier so liebevoll aufgestellt hat, denn er ist einer der ältesten Vereine Murnaus. Vor 156 Jahren wurde er gegründet, und auch das im Monat März. Über einen großen Murnauer Mäzen müssen wir demnächst auf unserer Seidlbank sprechen. Über eine in diesem Monat neu erschienene Biographie zu James Loeb, Der jüdische Mäzen und die Nazis, * will ich dich gern befragen. Ihr habt doch zur gleichen Zeit in Murnau gewohnt, Murnau geliebt. Jetzt wollte ich aber mit dir über das Messingschild auf den neuen Seidlbänken sprechen: Bank für Frieden und Freiheit.

Gerade heute, wo wir an Kants Geburtstag hier sitzen. Vor 300 Jahren wurde er geboren. Was haben die sich gedacht, die diesen Satz mit den Messingschildern auf die Bänke schrauben ließen? Passt halt in unsere unruhige Zeit. Passt immer. Auch Messing passt, muss doch auch geputzt werden, wie Frieden und Freiheit.

Aber zu Kant? Ödön, dazu hole ich mal Johann Hinrich Claussen auf unsere Bank, Pastor, Autor, und auch Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands. „Kant hat erst einmal alle vorhandene Theorien über Religion einer radikalen Kritik unterzogen. Wir können von Gott nichts wissen, sein Wesen ist mit unserer Vernunft nicht zu erkennen. Kant wollte darum genauer bestimmen, was der Glaube ist, und was ihn vom Wissen oder Meinen unterscheidet. Er geht davon aus, dass der Mensch an Gott und die Unsterblichkeit seiner Seele glauben muss, wenn er seine Existenz als sinnvoll begreifen will. Warum sollte er sonst seiner moralischen Verpflichtung folgen, wenn es keinen Gott gibt, der am Ende für Gerechtigkeit sorgt?

Gott und Gerechtigkeit: diese Verbindung wurde natürlich vielfach kritisiert. Löst sich Religion dadurch in Moral auf? Aber Kant hat sich durchgesetzt: Der Glaube ist etwas anderes als das Wissen. Der Glaube erklärt dem Menschen nicht die Welt. Er klärt ihn über seine Würde auf und über die aller Menschen. Das ist ein neues Verständnis von Religion. Und das hat Folgen für die Kirchen. Sie muss ohne Wahrheits- und Machtansprüche auskommen. Kant wünscht sich ein anderes Glaubensverständnis. Es muss sich dadurch beweisen, dass es der Freiheit und dem Frieden dient.“ Ödön, so werden ja durch ein Messingschild aus den Seidl- Kirchenbänke. Unsere Bank nicht, mein Lieber. Ich bin vor rund hundert Jahren aus der Kirche ausgetreten. Nimm Kants Kirchenverständnis als Argument.

Dann dürfte die jetzt erschienene Untersuchung zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft für dich eine spannende Lektüre sein. Alle zehn Jahre wird sie durchgeführt, im letzten Herbst zum sechsten Mal: repräsentativ für die in Privathaushalten lebende Bevölkerung in Deutschland ab dem vierzehnten Lebensjahr. Steht stolz im Vorwort. Auch dass zum ersten Mal nicht nur Evangelische und Konfessionslose, sondern auch Katholiken befragt wurden. Fünfhundertzweiundneunzig Fragen, darunter auch welche zum Klimaschutz, zur Demokratie, zu politischen Haltungen, zum Beispiel der Aufnahme Geflüchteter. ** Ja, mein Lieber, ich habe tatsächlich die Befragung gelesen. Und so auch erfahren, dass zwei Drittel der Protestanten, drei Viertel der Katholiken zum Austritt tendieren. Sie erwarten mehr Geschlechtergerechtigkeit in den kirchlichen Strukturen. Sie erwarten, dass die Kirche Schritt hält mit dem gesellschaftlichen Leben. Das wäre doch neu, mein Lieber. Kirche hat doch gemeint, der Gesellschaft den Schritt vorzugeben. Und mit Schuldgefühlen und Strafen sie in diesem Schritt zu halten.

Ja, Ödön, die Theologie der Sterblichkeit und des Todes beherrschte die Kirche, und so konnte sie als Wächter der Wahrheit ihre Macht erhalten. Noch erwarten die Austrittswilligen Reformen, erwarten eine stärkere ökumenische Zusammenarbeit. Ob sie das wegen des geschätzten sozialen Engagements in der Gesellschaft erwarten, weil das soziale Netzwerk der Kirchen in der Gesellschaft eine größere Rolle spielt als die religiösen Themen? Wer weiß. Statt an der Theologie nun an der Soziologie und dieser Befragung sein Handeln orientieren, das wäre ein Verrat an der Botschaft der Bibel, die eindeutig von der bedingungslosen Liebe Gottes spricht.

Du hast, Ödön, schon früh einen Text geschrieben, in dem ein Harfenkonzertplakat aussichtslos den Zweikampf gegen ein Faustkampfplakat verliert. Du lässt Gott auftreten, der diese Nachricht lapidar achselzuckend kommentiert: „Hja, mein Gott- – -“. Ja, mein Lieber, das habe ich geschrieben. Gott als Zuschauer. So sah ich ihn damals, weil ich eine Welt sah, in der Gott nicht vorkam, nicht vorkommen konnte. Gott war nicht in den Menschen erfahrbar. Das hat sich in späteren Texten schon geändert.

Und da wären wir wieder bei Kant, Ödön. Glaube klärt den Menschen über seine Würde auf, macht ihm bewusst, wer er ist. Kants Schlüsselbegriffe in seinem Religionsverständnis sind Kritik, Vernunft, Würde und Friede. Kirche soll dem Glauben des Menschen dienen und nicht ihn bestimmen. Sie beweist ihren Sinn, wenn sie der Freiheit und dem Frieden dient. Auch wenn er in Königsberg geboren ist, das heute Kaliningrad heißt, kann ein Putin ihn nicht als Vater seines Handelns benutzen. Da muss wohl auch die Zivilisationspipeline leck geschossen worden sein. Genug gepredigt heute, Ödön?

Beenden wir das Zitat des heutigen Titels, um unser Gemüt mit neuer Bewunderung zu erfüllen. Zum bestirnten Himmel über uns muss das moralische Gesetz in mir kommen. Was das heißt? Wenn wir wissen, was wir wissen können, dann gibt es auch ein Wissen davon, was wir nicht wissen. Und somit Platz für den Glauben. ***

* Edith Raim, Der jüdische Mäzen und die Nazis, James Loeb und Munau 1919 – 1933, De Gruyter Oldenburg, 337 Seiten, 52, 45€
** Google: Wie hältst du’s mit der Kirche, Download der Studie KMU 6
*** Omri Boehm und Daniel Kehlmann, Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant, Propyläen Verlag, 352 Seiten, 26€

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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