Das Ende der Illusionen?

Akzeptiere, wer du bist
Soziale Energie
Resonanz und Echo

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Ödön kommt fröhlich trällernd zu mir auf die Seidlbank. Gut gelaunt? Gute Vorsätze fürs neue Jahr gefasst? Ich war in Wim Wenders Film „Perfect Days“, so sehr von dir gelobt bei unserem letzten Treffen. Seither schaue ich oft wie Hirayama hoch in den Himmel. Ja, ein Wolkengucker warst du doch schon immer. Stimmt, aber erst waren da nur die Wolken, aber dann wurde ich immer mehr zum Gottsucher. Aber zu den üblich gewordenen Vorsätzen fünf Minuten vor Mitternacht an Silvester gehört das nicht.

Unser Gehirn ist ein Gewohnheitstier. Neue Muster einüben, das ist mühsam. Ja, Ödön, aber das Buch „Die Kraft positiven Denkens“ ist weltweit sieben Millionen Mal verkauft worden. Mag ja sein, mein Lieber. Holen wir doch Francis Sanzaro auf unsere Bank. Er ist Schriftsteller, Bergsteiger, Philosoph. Jetzt verstehst du sicher, warum ich ihn mag. „Ich habe den Wunsch, eine Gesamtphilosophie zu entwickeln. Menschen glauben, sie können sich fundamental optimieren. Sie können auf ihr Selbstbewusstsein, auf ihren Mindset immer noch was draufpacken. Wir leben im Zeitalter der „Mindset-Revolution“. Das ist eine Art psychischer Selbstbeschwörung: Entschlossenheit! Standhaftigkeit! Selbstvertrauen! Und du kommst auf jeden herausfordernden Berg. Lass das verbissene Erfolgsstreben. Akzeptiere, wer du bist.“ Ich ergänze gleich: Wie du bist. Und so sind wir wieder bei den Vorsätzen zum Jahreswechsel.

Ödön fängt an zu trällern: „…be not too hard, for life is short…“. Hey, Ödön, Joan Baez. Sei nicht so hart, das Leben ist kurz. Ja mein Lieber, habe ich gehört. Hat mir gefallen. Hat mich an mich erinnert. Ich könnte weiter machen, Ödön. „Kröten sitzen gern auf Mauern, wo sie auf die Falter lauern. Falter sitzen gern an Wänden, wo sie dann in Kröten enden. So du, so ich, so wir. Nur, wer ist welches Tier? * Robert Gernhardt, könnte auch dir gefallen. Und all den Selbstoptimierern, den Eisbadern, die jetzt, als es mal wieder einen richtigen Winter gab, endlich neben Intervallfasten, veganer Ernährung und Alkoholabstinenz zitternd aus See oder Fluss steigen konnten, damit ihre Lebenserwartung steigt.

Das gesunde Zittern, mit den wir aus dem Wasser steigen, schafft braunes Fett, Ödön. Und das weiße unter der Bauchhaut bleibt. Schöne Aussichten für einen sich erwärmenden Planeten. Ihr vertraut doch immer auf technikoffene Lösungen bei der Klimakrise: Strom, Erdgas, Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe. Du denkst jetzt an Gefrierschränke mit einer Öffnung oben für den Kopf? Da vertraue ich mehr auf die soziale Energie. Ich hole mal Hartmut Rosa auf unsere Bank, der 2023 den Leibniz-Preis bekommen hat, der höchste wissenschaftliche Preis in Deutschland zur Förderung der Forschung. Seit 1986 wird er vergeben. Der Soziologe war einer der zehn Preisträger im letzten Jahr.

Im neuen Projekt geht es bei ihm um die soziale Energie. Was ist das für ein Phänomen? Wir sind total erschöpft, aber plötzlich im Miteinander werden wir gestärkt. „Der individuelle, wie der kollektive Burn-out hat ihren Ursprung darin, dass sich unsere privaten und politischen Aktivitäten in wachsendem Maße wie Tätigkeiten anfühlen, bei denen wir immer mehr Energie verbrauchen, aufwenden, investieren müssen und immer weniger zurückerhalten. Wir müssen immer mehr leisten, um uns etwas leisten zu können. Diese Grundform des Kapitalismus erleben wir dann auch in unseren sozialen Beziehungen. Wir reden von Beziehungsarbeit, übersehen, dass bei unserer „energetischen Arbeit“ der Wert für uns wesentlich im Geschehen liegt. Kurz gesagt: Anstrengung führt zu Energiegewinn, wenn wir auf die Tätigkeit schauen und nicht auf die Input-Output Rechnung.“

Ein dicker Brocken, den uns da dein Hartmut Rosa auf unsere Bank legt. Ich denke, lieber Ödön, an Hirajama in „Perfect Days“. Er sieht Toilettenputzen als energetische Arbeit, heute ist heute. Und morgen? Ist ein anderer Tag. Aber Leben ist doch Veränderung, von der ersten Minute an. Wer geboren wird, wächst und lernt. Wer ein Kind bekommt, kann gleich das Loslassen üben. Wenn sich gar nichts mehr verändert, ist man im Allgemeinen tot. Wie kommt man durch dieses Kuddelmuddel, das man Leben nennt? Durch Beziehungen werden wir widerstandsfähig. Dieses Miteinander von Menschen brauchen wir, es ist überlebenswichtig.

Aber, lieber Freund, die „perfekten Tage“ sind aufgeheizt. Die Frustrationen im Kuddelmuddel Leben nehmen zu, werden zu Aggressionen, zuerst in der Sprache, dann in der Tat. Zunächst wird die „Letzte Generation“ noch als „Klima-RAF“ beschimpft, dann versucht man die Demonstrierenden von der Straße zu reißen oder anzufahren. Ja, Ödön, Menschen werden nicht mehr als Menschen gesehen. Aber verroht? Vielleicht entsolidarisiert. Jeder versucht, seine eigenen Interessen durchzusetzen, schaut nach seinen Möglichkeiten. Schatten fangen. Das alte Kinderspiel?

Wim Wenders zeigt, wie Erwachsene damit umgehen. Im Spiel auf den anderen reagieren, sich ändern, um den anderen zu erreichen. Der, der vorhin auf unserer Bank saß, Ödön, der nennt das Resonanz. Die Rechten, die sich ja gern identitär nennen, die wollen aber nicht Resonanz, die wollen ein Echo auf ihre Stimme, als die einzig richtige, die alle anderen ausschaltet. Und Echo geben ist eben einfacher. Auch nichts zu ändern ist es. Der Alltag ist doch in Ordnung. Und dann macht der Staat aus einem Hotel ein Flüchtlingsheim. Und dann will er die Heizung ändern. Und dann will er auch noch in meinen Körper, mich impfen. Und dann drängelt er sich noch in mein Denken: kein N-Wort mehr, aber gendern. Ein Riesenfrust. Aber auch für die Politiker in diesem Staat, mein Lieber. Sie können die Menschen nicht mehr erreichen, nicht mehr berühren.

Wer Demokratie haben will, der muss auch dafür was tun. Visionen sind nötig.

Das jetzige Europa ist sicher keine, könnte, sollte aber eine sein. Europa als Wertegemeinschaft gegen die Populisten. Eine Verfassungsviertelstunde in den Schulen, Ödön, eine Illusion, keine Vision. Welches Tier sind wir? Komm, das Leben ist kurz, wir gehen was trinken, auch wenn wir keinen Durst haben.

* Robert Gernhardt, Das Große Lesebuch, Fischer Taschenbuch, 14 €

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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