Das Jahr wird alt, ist gar nicht sehr gesund

Ortsgeschichte: Als Marktplatz und Wunderkammer präsentiert
Weihnachten: Wo bist du, was machst du?
Menschsein: In Beziehungen leben

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Ist das auch dein Wunsch, Ödön, einen Ort zu finden, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft nach ihrer Ankunft auf eine gute Zukunft hoffen können? Musste ich oft finden, mein Lieber, auch schwierig, weil man ja seine Vergangenheit immer an diesen Ort mitbringt. War Murnau, Ödön, so ein Ort für dich? Wenn ich nur wieder in Murnau sein könnte, ja, das habe ich oft geseufzt. Freu dich, diesen Wunsch hat das Schloßmuseum auf eine Wand schreiben lassen in einem seiner neuen zwei Räume in der Abteilung Ortsgeschichte. Toll, wenn Kunst- und Lokalgeschichte in einem Haus wohnen. Toll, wenn die Themen Murnaus mit dieser Überschrift versehen werden.

Und was steht an der Wand? „Wo nach der Ankunft / die Herkunft / die Zukunft / nicht überschattet. Toll ist es aber auch, lieber Ödön, dass diese Verse an der Wand wie ein Menetekel zu lesen sind, denn bei Melanie Arzenheimer, die das Gedicht „Gelobtes Land“ 2016 schrieb, löste der damalige Asylantenstrom diesen Warnruf aus. Heute, wo wieder mit Leitkultur Politik gemacht wird und Wähler zurückgeholt werden sollen, wirkt dieser Begriff wie ein Grenzzaun zwischen unseren und anderen Werten. Solch ein Zitat in einen Raum aufzunehmen, dem der Name „Marktplatz“ gegeben wurde, das zeigt doch ein mutiges Haus der Kultur mitten im Leben eines Marktes.

Komm Ödön, lass uns hoch in den „Schlossgarten“ gehen, wieder einmal auf die Dächer Murnaus schauen. Glühweinduft. Von St. Nikolaus klingt aus einem Adventslied der sehnsuchtsvolle Vers „O aller Welt Verlangen“. * Paul Gerhardt hat ihn geschrieben, in den Verwüstungen eines Krieges. Der damals hieß der Dreißigjährige. Heribert Prantl hat wohl recht: es gibt keine Zeitenwende, es gibt nur die ewige Ebbe und Flut von Gewalt. Aus der Fußgängerzone tönt der Ohrwurm der „Weihnachtsbäckerei“. Rolf Zuckorwski hat ihn 1986 im Auto geschrieben, auf der Heimfahrt von einem Konzert in Bochum und einem Telefonat mit der Familie in Hamburg. „Wir backen Plätzchen“ war deren Botschaft. Mit „In der Weihnachtsbäckerei“, sein Mitbringsel, betrat er singend das Zuhause. Wo bist du an Weihnachten? Was machst du an Weihnachten?

Das sind die Fragen der Fragen in der Weihnachtszeit? Und deine Antworten darauf? Ödön schmunzelt. „Ich habe die Weihnachtsbotschaft mal in einem Sportmärchen gebraucht, nach dem sich drei Gesellen nach einem heftigen Streit und einer tätlichen Auseinandersetzung in einem Spiegel betrachtet haben. ** Du meinst, man muss dem Leben fernbleiben, die Botschaft, die über die Krippe verbreitet wird, die gilt nur für Menschen, die guten Willens sind. Da legt Hannah Arendt aber eine andere Deutung in die Geburt eines Kindes: „Bedenke, dass du geboren worden bist.“ So die jüdische Philosophin, nur knapp der Verfolgung und Ermordung entkommen. Ihre Lesart der Weihnachtsgeschichte: „Dass man in der Welt vertrauen haben kann und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die Frohe Botschaft verkünden: Uns ist ein Kind geboren.“

Das Menschsein vom Anfang herdenken. Es ist immer der Beginn einer Beziehung: Die Schwangerschaft, die Geburt, die Sorge um das neugeborene Kind. Menschsein, das heißt Angewiesensein. Ich hole Petra Bahr, die evangelische Theologin, Mitglied im Deutschen Ethikrat zu uns Zweien auf den Schlossberg, befragen sie zu „Weihnachten nach Hannah Arendt“. „In der alten Bildtradition gibt es dafür viele Darstellungen: Maria, die stillt. Josef, der seine Beinkleider auszieht, damit das Neugeborene gewickelt werden kann. Die Gesten der Innigkeit erinnern daran, das Menschsein von Anfang an ein Inbeziehungsein ist. Das Moment der Hilflosigkeit, des existenziellen Angewiesenseins in diesem Anfang hat Folgen für das Verständnis dessen, was Menschsein bedeutet.“

Wir schauen auf die abendlichen Straßen und Gassen, auf Menschen, die da gehen, beieinander stehen. Die da unter den Dächern wohnen, woher sie auch kommen, wie sie auch aussehen: Es sind Menschen. Ihr Leben mag oft ein Kuddelmuddel sein. Menschen tun in diesem Leben sicher viel Dummes und hin und wieder auch Kluges, aber sie lachen zusammen und sorgen sich umeinander. Es sind Beziehungen, die sie widerstandsfähig machen gegenüber allem, was da kommt.

In „Perfect Days“ zeigt uns Wim Wenders die Kunst des Menschseins. *** Wenn Hirayama, der Toilettenputzer in Tokio morgens seine Wohnung verlässt, zeigt er eine untergründige Heiterkeit, eine Wachheit in der Ruhe. Hirayama spricht kaum und doch ist er im Gespräch mit der Welt. Wenn er morgens sein Haus verlässt, blickt er nach oben. Auch wenn er aus der Enge der Toiletten tritt, geht sein Blick in den Himmel. Die Perspektive weitet sich. Ja, das ist Weihnachten.

* Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach
** Horváth, Sportmärchen, Die 3 Gesellen, S, 89, suhrkamp taschenbuch 1061
*** Perfect Days, Film von Wim Wenders, Premiere 2023 beim Filmfestival in Cannes. Demnächst auch im Griesbräukino.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

❎ Danke. Im Moment habe ich kein Interesse an dem Newsletter.
✔️ Ich habe mich bereits für den Newsletter angemeldet.