Verkehrsschilder der Gerechtigkeit…

… Planetare Grenzen … 42. Passion … Von den Staatsumwälzern

Ödön auf der Seidlbank

Was für eine Schlagzeile. Ich lege sorgsam meine Heimatzeitung auf Seidls Bank, stehe auf, atme tief aus. Ein sanfter Luftzug meiner Bewunderung kommt über meine Lippen. Pfff. Was für eine Idee, wie durchdacht die Planung und ihre Realisation. Welch langer Atem, um solch ein Projekt abzuschließen. Ich winke Johannes Volkmann herbei, den Künstler, der das schon mehrmals geleistet hat, die Reduktion der künstlerischen Mittel. Was heißt das? „Du nimmst eine Tüte. So eine, die du sie beim Metzger bekommst, zum Beispiel, wenn du Wurst kaufst. Diese Funktion der Tüte widme ich um und frage: Was trage ich bei? Und ergänze: Für eine friedliche Welt? Eine vier Meter hohe Tüte mit dieser Inschrift haben wir in München vor die Feldherrenhalle gestellt, 250 kleinere um sie herum. Alle Tüten haben eingeladen, sie mit Antworten zu füllen, Vorhaben, Geschichten.“ Ich nicke, erinnere mich.

Verkehrsschilder der Gerechtigkeit
Verkehrsschilder der Gerechtigkeit

Die Tüte stand auch in der Murnauer Fußgängerzone und dann in St. Nikolaus. Und jetzt also eine neue Gesellschaftsinszenierung, die im März in Nürnberg begann und über Holzkirchen am 17. Juni nach Murnau kam, ein Statement von 9 Bürgermeistern im Blauen Land. „Verkehrsschilder der Gerechtigkeit. Das ist ein passendes Kunstprojekt zum G-7-Gipfel, gestaltet von Jugendlichen aus acht Nationen, entstanden auf einem Kindergipfel.“ Und der Ödön in mir ergänzt: „Nicht in einem Luxushotel, abgeschlossen von 160 Kilometer Zaun und 160 Millionen Euro Kosten für die Sicherheit des Gipfels.“ Was bei der Ordnung des Straßenverkehrs weltweit gelungen ist, das soll also die Mächtigen der Welt daran erinnern, was ihre zentrale Aufgabe ist?

Johannes wird lebhaft. „Nicht nur die Mächtigen, nicht nur drei Tage. Das Blaue Land kann dauerhaft daran erinnern. Patenschaften für die Verkehrsschilder können übernommen werden. So kann man bestimmen, wo sie dauerhaft aufgestellt werden sollen.“ Johannes greift zur Schere, sein Werkzeug in seinem Papiertheater, faltet mehrfach einen Papierbogen, beschneidet ihn und, entfaltet, ist eine Menschenkette entstanden, Menschen, die Hand in Hand Gleichheit und Gerechtigkeit symbolisieren.

Wer wird die Sprache der umgedeuteten Verkehrszeichen verstehen, auf sie hören, danach handeln? Wer die des kleinen Kirchleins im Blauen Land, das gerade jetzt sein hundertjähriges Jubiläum feiert, genau in der Zeit des Kunstprojektes und in der der großen Sätze? Wer hört sie, die kleinen Sätze des Theaterstücks zu diesem Kirchenjubiläum „Violett im Blauen Land“? Viermal wurde es gespielt. Wer hört, wer sieht die Parallelen zwischen Theater- und Gesellschaftsinszenierung? Acht Verkehrszeichen, die zur Gerechtigkeit und damit zur Ordnung in unserer Welt führen und regeln können, wie wir unter- und miteinander umgehen gegen den Auftritt der Mächtigen und ihrer Entourage?

Wem ist es aufgefallen, dass die acht ausgewählten Zeichen biblischen Ursprungs sind, dass sie den Auftrag an die Menschen erfüllen können, ein Segen für diese Erde zu sein? 1,6 Erden wären notwendig, um den heutigen Lebensstandard dauerhaft zu erhalten. Da meldet sich der Ödön in mir: „Du vergisst, dass bei dieser Rechnung alle, die nicht mitgerechnet sind, die uns zu unserem westlichen Lebensstandard verholfen haben. Sie möchten ihn aber natürlich auch erreichen.“ Ja, da ist doch ziemlich viel missglückt, wenn ich so zurecht gerüttelt auf den Planeten schaue.

Ich greife zur Zeitung auf meiner Bank. Schon in ihr, in ihrer begrenzten Region ist von „planetare Grenzen“ zu lesen. Verschmutzung, Artenschwund, Abholzung, Klimawandel. Da muss ich nicht die Abendschau einschalten. Jetzt greift Ödön nach mir. „Das Missglückte hat schon in Murnau reichlich Stoff für mein Schreiben geliefert. Und die Kirchen haben kräftig mitgeholfen, den Auftrag für sich zu nutzen, ihre Macht auszubauen.“ Gerechtigkeit. Scheint eine Utopie zu sein. Die Menschen sehnen sich aber nach ihr, suchen nach dem Einssein, nach dem Absoluten, nach einem Gott. Den christlichen Gott? Ist er erfahrbar?

In Oberammergau schien das so zu sein. Seit 1634 erzählt alle zehn Jahre ein ganzes Dorf in „der Passion“ von diesem Gott, der sie von der Pest befreit hat. So ein Gelübde setzt ja den Glauben an Gott voraus und zugleich den Glauben Gottes an jene, die es aussprechen. In der 42. Passion ist es in diesem Jahr wieder zu erleben. Stückl zeigt in ihr den Pilatus als den brutalen Machtmenschen, der er war, nicht den weich gezeichneten der Evangelien, nicht den der Kirchen, wo er in einigen sogar als Heiliger verehrt wird. Überhaupt: Stückls Spiel ist ein Versuch, die christliche Botschaft aus den Fängen der Institution Kirche zu retten. Nicht nur Pilatus hat er verändert, auch Judas, traditionell im gelben Gewand, die Figur des Antisemitismus, sie gewinnt jetzt Sympathie.

Verändert hat er auch die Regeln. Heute dürfen auch Protestanten mitspielen, ein Muslim ist sogar zweiter Spielleiter. Früher mussten Frauen jünger als 35 Jahre sein und unverheiratet. Sein Jesus ist ein rebellischer, aber barmherziger Mann des Volkes. Und den Originaltext bearbeitet er unablässig seit 30 Jahren, seit er die Intendanz übernommen hat, befreit ihn von seinen Antijudaismen. Ja, die Kirchen. Gerade sie sollten doch in aller Verschiedenheit zu einem Dialog finden, aus der Welt eine Welt für alle zu machen. Ihr sollt ein Segen für die Welt sein.

Einer, der das auch wollte, der feierte in den letzten vier Wochen seinen zweihundertfünfzigsten Geburtstag. Das heute beängstigende Wort der Zeitenwende war für ihn Anlass zu einem Traum: Die Französische Revolution sollte zu einem neuen Europa führen, in dem die Grundwerte des Christentums verwirklicht werden könnten. Nimm Platz, guter Hardenberg, hier auf meiner Bank. „Betrachte ruhig und unbefangen die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Alte und neue Welt sind im Kampf. Die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbarem Phänomen offenbar geworden. Der Staatsumwälzer, ist der nicht ein Sisyphus? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der anderen Seite wieder hinunter.“ Novalis, du bist halt doch ein Romantiker. Du solltest nicht hier, du solltest auf der berühmten langen Bank in Elmau sitzen, bei den Staatsumwälzern. Und vor ihnen die acht Verkehrsschilder der Gerechtigkeit aufstellen. Und beim Abschlusskommunique tritt jeder mit einem Schild zum Mikrofon. Welches Schild wird wohl zurückbleiben?

Ich höre, Ödön, wie du zustimmend brummst, auch ein Verkehrszeichen nennst. Ich kann dich aber nicht verstehen. Der Hubschrauber über uns deckt mit seinem Lärm alles zu. Ach, wir Romantiker.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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