Parteien, die es lange gibt, die haben es nicht hingekriegt

Ewig lang kein Sommer
Donald Duck und wir
Die Rechten kommen

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

So ein Mist! So ein Mist!
Dass ewig lang kein Sommer ist.
Und kommt er endlich irgendwann,
dann hält er grad ’ne Woche an.

Steht bei mir auf dem Kinderkalender an der Wand. Ödön schaut mich kopfschüttelnd an. Reg dich doch nicht auf, mein Lieber. Der Sommeranfang kommt ja erst noch. Der kalendarische, Ödön. Ich weiß. Um 22:50 Uhr erreicht bei uns am 20. Juni die Sonne ihren höchsten Stand. Mist, Mist, Mist. Für Sven Plöger ist aber wegen der Meteorologie als Wissenschaft schon ab dem 1. Juni Sommer und auch bei Claudia Kleinert, obwohl sie auf ihren Wetterkarten ganz genau zeigen können, warum das bisher doch nicht so sein kann.

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Dafür wird davor und danach vom Sommermärchen geschwätzt, auch in den Zeitungen, als ob der Fußball und der Julian Nagelsmann die Tiefs vertreiben können. Dabei gehts doch bei ihm nur um hoch angreifen und tief verteidigen. Fußballersprache halt, mein Lieber. Halte den Ball flach. Plustere dich nicht auf. Du erinnerst mich an Donald Duck. Passt doch auch in den Juni.

Neunzig ist er geworden. Seit Carl Barks ihn in Entenhausen wohnen lässt erscheint er mir noch mehr als ein Spiegelbild unserer selbst. Jetzt habe ich gelesen, dass der grantige Enterich mehr ist als ein Spaß für Kinder und Kindsköpfe. Max Horkheimer und Theodor Adorno hätten ihn als zeittypische Erscheinung mit soziologischen und psychologischen Analysen weitreichend analysiert.

Jetzt aber Ödön, jagst du den Ball hoch übers Feld der Gesellschaft: Donald Duck und die „Dialektik der Aufklärung“, ein Erpel wie wir. Sperr ihn mal weg, den inneren Oberlehrer. Die Menschen legen sich in die Sonne, wenn sie mal wieder scheint, fliegen mal kurz nach Mallorca, sparen auf einen SUV. Die Menschen wissen, dass es nicht gut ist, nicht für sie, nicht für den Planeten. Was kümmert sie das. Die Menschen sind stolz auf ihre Ignoranz, auf ihren Eigensinn.

Unvernunft ist zur Lebenshaltung geworden in unserer Gesellschaft. Du hörst, ich habe Hanno Rauterberg gelesen, „Die Freude an der Unvernunft“. Die Welt ist nicht entzaubert, nicht von Mythen befreit, Glaube und Aberglaube nicht durch Verstand ersetzt. Von diesem trotzigen Antidenken profitieren nicht zuletzt die populistischen Parteien. Im Herbst werden die Working Poor, also die, die trotz Arbeit unter der Armutsgrenze leben, mehrheitlich für Donald Trump stimmen. Du kannst ganz nah bleiben, mein Lieber. Im Juli schon, in Frankreich, werden die, die sich abgedrängt fühlen oder überfordert, sie werden für die stimmen, die einfache Lösungen anbieten. Der von Tausenden gefüllte Place de la Republique in Paris rettet vielleicht die Republik, den Rechtsruck hindern aber kaum, vielleicht lindern.

Ja, Ödön, Vernunft verhieß Fortschritt, ein gutes Leben für alle. Aber heute wird selbst Vernünftigen die Vernunft suspekt. Wir haben tolle Techniken der Welt- und Selbstbeherrschung gelernt, aber am Ende sind wir uns selbst zum Schicksal geworden. Schauen wir, Ödön, auf die Europawahlen in diesem Monat. Und auf die Jugendlichen, wie sie gewählt haben, in Deutschland erstmals schon die Sechzehnjährigen.

Im Alter bis 24 Jahre wählten 16 Prozent die AfD. Die Partei hat sich durchgesetzt bei den Jungen, trotz des Correctiv-Berichts, trotz Sylt, trotz Maximilian Krah, der die Verbrechen der SS relativierte. Umfragen und Studien zeigen, dass es nicht nur bei Jugendlichen persönliche Sicherheitsbedürfnisse sind, die zur Wahl der AfD führten, und das nicht nur in Deutschland. Parteien wie die portugiesische Chega, die niederländische Partei für die Freiheit oder die französische Rassemblement National verstehen es also, die Sorgen besonders der jungen Wähler aufzugreifen. Das ist ein erschreckendes Signal für das Europa der nächsten fünf Jahre.

Es ist aber auch erschreckend, mein Lieber, wenn die Selbstentfaltung mehr und mehr ein Problem der Selbsterhaltung wird. Es geht nicht mehr darum, Freiheit zu gewinnen, in die Zukunft aufzubrechen. Es geht um Anpassung. Dann holen wir uns doch den Philosophen Jürgen Wiebecke auf unsere Bank. Der hat über „Emotionale Gleichgewichtsstörung“ nachgedacht. „Junge Leute, von denen man meinen könnte, die Welt stehe ihnen offen, dank der Digitalisierung seien die Möglichkeiten reicher, die Schwellen niedriger denn je, sie fühlen sich von Zwängen umzingelt, viel unfreier als die Generationen vor ihnen. Alles kann ihnen zum Fehler werden. Für alles sind sie haftbar. Ihr Dasein ist ein
Dasein unter Vorbehalt.“

Fünf vor zwölf – die Rechten kommen. Sich wappnen, sich vorzubereiten, auf das, was da bald auf uns zukommen wird? Ödön, ist es schon wieder so weit? „What if we were wrong“, schätze, wir lagen falsch bei ihm, das sagte Barack Obama, mein Lieber, nachdem sein berüchtigter Nachfolger gewählt worden war. Das ist die unangenehme Frage, die wir uns stellen müssen. Das Denken in verfeindeten Lagern ist menschengemacht, wie die Fehler in der Migrations- und Coronapolitik, wie Klimawandel, Holocaust und Antisemitismus.

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Wann ist bald, Ödön? Vor 25 Jahren hat Daniel Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra gegründet. Es besteht aus israelischen und arabischen Musikern. Barenboims Traum: Mit seinem Ensemble in allen Herkunftsländern seiner Musiker aufzutreten. Er musste sich nach dem 7. Oktober in Berlin mit einem Benefizkonzert für Gaza begnügen. „Die Palästinenser können nichts dafür, dass Deutschland sechs Millionen Juden ermordet hat.“ Den Konflikt lösen können sie nicht. An Humanismus glauben, da das schon. Was geben wir unseren Lesern mit? Vielleicht hilfts, was Friedrich Ani am 3. Juni in der SZ geschrieben hat.

Wir sind’s.
Wer, wenn nicht wir,
trägt die Schuld an den
Massakern der Religionen im
Namen des einen
fürchterlich gerechten
Gottes, wer, wenn nicht
wir, sind die Hinterbliebenen
der vergeblich noch
Lebenden, eh sie gerichtet
werden, von den Bekenntnissen
derer, auserkoren von
niemandem außer
uns

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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