Nie mehr ist jetzt

Auf dem Ödön-von-Horváth-Platz
Über ekstatische Wahrheit
Von der Ökumene gegen Rechtsradikale

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Wie hast du dich gefühlt, Ödön, auf dem Platz, der deinen Namen trägt, in dem Ort, nach dem du dich immer wieder gesehnt hast? Von der Polizei wie von den Veranstaltern geschätzt sollen so zweitausend Menschen um dich auf deinem Platz gestanden haben. Was hast du da gefühlt? Frag dich mal, was du gespürt hast an diesem Sonntagnachmittag auf dem Öön-von-Horváth -Platz.

Schnelle Antwort, Ödön. Ich habe mich gefreut, dass so viele gekommen sind. Mit Hund und Kind und schön gestalteten Schildern und Plakaten. Wirklich eine bunte Welt. Ob sie aber auch bei Regen oder Schnee gekommen wären? Demokratie schützen auch in widrigen Wettern?

Ja, mein Lieber, der Überraschungsgast Christian Springer, der wäre wohl bei jedem Wetter gekommen. Bei „Nicht egal“, seinem Kabarettprogramm, hat er von der Demo „Nie mehr ist jetzt“ in Murnau gehört. Und kam. Und wie. Ich habe ihn bei seiner Erinnerungs-Installation „Alles rief Heil“ in Regensburg erlebt, zum Hitlerputsch vor 100 Jahren. Christian ist einer, der nicht nur sprachlich packt: „Demokratie ist nicht sexy, kommt nicht im Minirock daher. Demokratie ist zach. Sie ist nicht befriedigend, aber das Beste, was es gibt.“ Hätte er hier, gerade in Murnau, seine Installation ausgepackt, „Nie mehr ist jetzt“ hätte die Demo einen konkreten Hintergrund als Kulisse gehabt, Tiefe gewonnen.

Ja, Ödön, „ekstatische Wahrheit“ nennt Werner Herzog das, weil nur die Kunst, die Musik, die Literatur, das Kino eine tiefere Schicht von Wahrheit erkunde. Wir bleiben halt auf der Oberfläche. Nimm die Schlagzeile in der Zeitung zur Demo: „2.000 Bürger zeigen Flagge“. Fakten zählen. Herzog nennt das griffig: Dann ist das Telefonbuch das Buch der Bücher. *

Ja, mein Lieber, ich hatte nur das Herzog Büchlein mit seinen 112 Seiten in der Hand, sein Cover hat meine Neugier geweckt: Ein Pinguin wandert durch ein schneeverwehtes Gebirge, eine Szene aus seinem Film „Begegnungen am Ende der Welt“. Der Film hat inzwischen Kultstatus. Ein Pinguin auf der Suche nach der Wahrheit? Ich blättere durch die Seiten. Und was finde ich auf der Vorletzten? „Wahrheit, was ist das? Ich kann die Frage nicht beantworten.“ Nein, mein Lieber. Dein Werner Herzog hat nicht tief genug gebohrt. Ekstatische Wahrheit. Ich habe den Schauspielern in „Kasimir und Karoline“ in ihren Text die Bühnenanweisung Stille geschrieben. Von ihr aus sollten sie die Wahrheit finden, wie Kasimir, wie Karoline zu spielen, wie eine tiefere Schicht von der Wahrheit ihrer Person zu finden sei. Und über das Spiel die Ballade erleben, von einem, dem es nicht gelingt, aus seinen trostlosen Verhältnissen auszubrechen.

Ödön, du hast mich gefragt, was ich an der Demo am Sonntag gespürt habe. Meine schnelle Antwort könnte ich jetzt erweitern. Ich habe mich auch über die gute Stimmung gefreut, das Geborgensein in der klatschenden Menge. Wir waren Viele, waren Gleichgesinnte, haben an einem Sonntagnachmittag ein Zeichen gesetzt. Wird es standhalten, wenn sie wiederkommen, die kalten Zeiten, wie sie Edith Raim eindrucksvoll für Murnau beschrieben hat. **

Wir wissen doch alles über die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts. Und doch, ein kleiner Ort am Rand der Alpen, was fördert der mikroskopische Blick einer Historikerin da noch zu Tage? Viel. Mitten im konservativ-katholischen Oberbayern entsteht in Murnau eine „Hochburg des Nationalsozialismus“. Warum? Immerhin zählten neun „Blutordenträger“ zu Murnaus Einwohnern. Der Orden wurde für die Beteiligung am Hitlerputsch verliehen. Es war dieser Christian Springer auf der Demo, der an dieses Ereignis vor einhundert Jahren mit seiner Installation „Alles rief Heil“ erinnerte. Genug, eine Demo?

Ödön, ich wünsche mir an sieben Samstagen einen Auszug im „Tagblatt“ aus der Raim Biografie von Murnau, zum Beispiel die sieben Seiten der Zusammenfassung, jedes Mal mit dem Motto aus deiner „Italienischen Nacht“. Nach „7 Wochen ohne“, dem Fasten der Kirchen, 7 Wochen das Bewusstsein verändern für ein Leben in einer verwandelten Welt.

Nicht schlecht, mein Lieber. Und doch, es wird nicht reichen. Was kommt danach, nach der Demo der Zweitausend, was nach 7 Wochen historischem Lückenschließen, was wird als Handeln sichtbar nach so viel Kopfarbeit? Immerhin, ein wuchtiges Bild in der Zeitung, die versammelten deutschen katholischen Bischöfe. Wuchtig auch die Erklärung: “Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“. Nur schade, Ödön, dass die Zeitung erst drei Tage später darauf verweist, dass schon im Dezember die Synode der Evangelischen Kirche erklärte:“ Die menschenverachtenden Haltungen und Äußerungen insbesondere der rechtsextremen Kräfte innerhalb der AfD sind mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens in keiner Weise vereinbar“. Eine Ökumene also gegen den Rechtsradikalismus. Immerhin.

Weiße evangelikale Christen in den USA, die russisch-orthodoxe Kirche, sie werden sich einer solchen Ökumene nicht anschließen. Traurig, dieser christliche Nationalismus. Ja, mein Lieber, Religionen lassen sich halt leicht instrumentalisieren. Reiße Wörter, Verse, Texte aus ihrem Kontext, dem literarischen, dem historischen, dem politischen und dann natürlich besonders auch dem theologischen, dann kannst du alles rechtfertigen. Jesus, der Linke. Mohammed, der Prophet, der politische, der kriegerische Anführer.

Ödön, ich bastle an einer Utopie, in der Gespräche möglich werden, in denen dieser Kontext nicht verloren geht. Der Bundestag hat jetzt erstmals einen Bürgerrat installiert. Eigentlich sollte der Bundestag selbst so was sein. Bürger aus allen Bereichen, von Fachleuten beraten, diskutieren ein Problem. Mit gesundem Menschenverstand, unverstelltem Blick von außen, unabhängig. Ein Bundestag, der einen Bürgerrat einsetzt, gesteht, dass ihm und den Parteien, die in ihm sitzen, das alles fehlt. Die Abgeordneten im Bundestag fragen also Bürger um Rat. Sind sie keine?

Eine interessante Utopie, mein Lieber. Ich dachte immer, Parteien sind Auslaufmodelle. Um die Welt zu verbessern, geht man zu Amnesty International, zu Greenpeace, in eine Bürgerinitiative. Dein Schluss: Die Parteien verbessern. Ödön, dafür habe ich ein schönes Bild bei Nils Minkmar gefunden, Historiker, Journalist, Publizist, Autor: „Parteien sind Omnibusse, deren Passagiere das Fahrtziel bestimmen. Lässt man sie in Ruhe, ziehen sie ihre Bahnen wie eh und je. Wenige Passagiere bestimmen dann. Löst man einen Fahrschein und nimmt Platz, ändert sich das Bild allmählich. Man schlägt andere Haltestellen vor, dort wartet ein neues Publikum. Und bald hat man andere Routen und andere Ziele.“

Ödön, Protest ist also nicht genug. Aber dafür 260 freie Abende opfern, wie ein Parteivordenker mal spottete? Churchill scheint Recht zu haben: Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.

* Werner Herzog, Die Zukunft der Wahrheit, Hanser Verlag 2024, 22 Euro

** Edith Raim, „Es kommen kalte Zeiten“. Murnau 1919 – 1950, Volk Verlag, München 2020, 752 Seiten, 29, 90€, aber auch in der Gemeindebücherei auszuleihen, im Schlossmuseum Murnau für Apple- und Androidnutzer als Autoguide über iTunes Store und Play-Store kostenfrei herunter zu laden.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

❎ Danke. Im Moment habe ich kein Interesse an dem Newsletter.
✔️ Ich habe mich bereits für den Newsletter angemeldet.