El Niño und La Niña
Die Meteorlogen und die Wetterpaten
Die politische Erzählung vom „Grünen Gockel“
Ödön auf der Seidlbank
Lockere und alltagsphilosophische Gedanken zu den letzten vier Wochen
Es ist allerhand los in diesem März, am Himmel und hier unter ihm, bei uns auf dieser Erde. Komm Ödön, durchs Wolkengewühl bricht die Sonne ein großes Loch. Auf zur Seidl Bank. An der üblichen Warteschlange vor der Gelaterie Gabbrielli vorbei, durchs Gedränge der bunten T-Shirt-Welt in der Fußgängerzone. Und tatsächlich, das Handy hat verloren, Hände können zumindest noch ein Eis halten. Ja, es ist Frühling, obwohl er kalendarisch erst am 20. März beginnt, für Besserwisser genau um 22:24 Uhr. Gestern noch standen die zwei Störche im Schneetreiben kopfschüttelnd in ihrem Nest. Was haben die Menschen da wieder am Klima gedreht? Doch heute Nest und Seidls Bank im herrlichen Sonnenloch. Wohlig warm, zum Hineinkuscheln, Emanuel, deine ergonomische Rückenlehne. Ein turbulenter März.
Wie war der Frühling bei dir, Ödön, so vor rund hundert Jahren? „Eigentlich wie jetzt.“ Ödön versucht sich zu erinnern. „Regen, Schnee, doch immer wieder hat durchs Wolkenloch auch der Frühling gespitzelt. Die politischen Wetter waren es, die meine Zeit vor rund hundert Jahren prägten. Die aufgezwungenen Friedensbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg brachten die junge Weimarer Republik zum Brodeln. Die Hyperinflation. Das besetzte Ruhrgebiet. Hitlers Putsch. Im Vulkan gärte es. Auf ihm tanzte der Exzess. Berlin wurde zur Welthauptstadt, Weltformat gewinnt ihr Nachtleben. Und zugleich: Hunger. Armut. Not. Das politische Wetter wird zum politischen Klima.
Schau dir mal meine „Geschichten aus dem Wiener Wald“ an. In den späten zwanziger Jahren habe ich sie geschrieben. Ein Volksstück sollte es werden. Du kannst das Volk aus dem damaligen politischen Klima auf der Bühne sehen.* Von El Niño, euer Zauberwort für die veränderte Großwetterlage, davon redete keiner“. Aber die peruanischen Fischer, lieber Ödön, die benutzten schon zu deiner Zeit das Zauberwort, was in ihrer spanischen Sprache Kind bedeutet. Und da das alle zwei bis sieben Jahre so um die Weihnachtszeit passierte, dass sich der Pazifik vor ihrer Küste bis zu drei Grad Celsius erwärmte und darum die Fischschwärme ausblieben, war für sie El Niño, das Christkind. Ironie? Hoffnung? Mit La Niña, das Mädchen, sind dann die zwei Spitznamen in die Wissenschaft gekommen, mit ihnen fassten Meteorologen den kräftigsten natürlichen Taktgeber des globalen Klimas zusammen. Der Pulsgeber liegt im Stillen Ozean. Das erzählte mir eine Frau, die als wissenschaftliche Redakteurin darüber nahezu alles weiß. So still, so friedlich, lieber Ödön, ist der Pazifik also gar nicht wie sein Name vermuten lässt.
Wie in einer Badewanne treiben Winde eine riesige Menge Oberflächenwasser hin und her, und das über Jahre, und bestimmen so nicht nur das Wetter des halben Planeten. Die starken Winde über den Wassermassen, die Jetstreams, die in der unteren Atmosphäre, also etwa fünfzehn Kilometer über dem Erdboden die Hochs- und Tiefs über den Planeten treiben, sie erzählen auch viel über die Klimawende. So, die alleswissende Redakteurin. Du siehst, Ödön, wieder hängt alles mit allem zusammen. Pfiffig, die deutschen Meteorologen.
Das Spiel mit den Namen der peruanischen Fischer haben sie übernommen. Seit 20 Jahren bieten sie Wetterpatenschaften an, wecken dadurch das Interesse am atmosphärischen Geschehen, erinnern zugleich aber auch daran, dass beim Klimaschutz jeder Einzelne persönlich gefragt ist. Vielleicht verhilfst du auch einmal dazu? 2026 werden die Hochdruckgebiete wieder männliche Vornamen tragen. Vielleicht wird dann im Dezember, an deinem 125. Geburtstag, Sven Plöger das Azorenhoch Ödön bei den Tagesthemen vorstellen. Wie ich ihn einschätze, nicht unkommentiert. Vielleicht können wir ja die rührige Horváth-Gesellschaft in Murnau zu dieser länderübergreifenden Möglichkeit eines Geburtstagsgrußes hin stupsen.
Wieder, Ödön, alles hängt mit allem zusammen. Und so sitzen wir hier auf Seidls Bank in der Sonne, auf der doch gestern noch Schnee lag, sehen die Eis-Schlecker als Frühlingsboten und denken an El Niño und La Niña und die Großwetterlage. Wir sehen die Bilder der Touristen auf dem schmalen Pfad über den Gardasee zur Insel San Biagio. Trockenheit schafft ein Naturkunstwerk? Lässt nachdenken? Eine Touristenattraktion. Vor sieben Jahren hat der Verhüllungskünstler Christo auf dem nahegelegenen Iseo-See den Traum ermöglicht, über das Wasser zu gehen. Jetzt wird die Dürre als Naturerlebnis zum Albtraum.
Seit elf Jahren gibt es einen Weltwassertag, immer am 22. März. „Accelerating Change“, beschleunigt den Wandel, trägt er dieses Mal als Motto. Ja, Ödön, dem kann man sich anschließen, aber auch dem zornigen Aufruf des UN-Generalsekretärs António Guterres in seiner Rede dazu: „No more excuses“. Schluss mit Ausreden. Keine Ausreden mehr. Ödön, da muss ich doch gleich Carolin Emke, die freie Publizistin, zu uns auf die Bank holen. „Helfen könnte, wenn die Klimabewegung sich als Emanzipationsbewegung verstünde, also als eine soziale Bewegung. Wenn demokratische Kipp-Punkte erreicht werden sollen, die die gegenwärtige Stagnation in der Klimabewegung etwas öffnen, dann braucht es eine politische Erzählung, die Emanzipation und Fürsorge zusammenbringen kann.“**
Ja, Ödön, wie gehen wir besser miteinander um, wie sorgen wir besser für die Grundlagen unseres Lebens? Beides gehört zusammen. Schon vor fast zweitausend Jahren schrieb einer, er hieß Paulus, aus Korinth in einem Brief an die Römer, „dass die Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ Und so sangen jetzt an einem Märzsonntag in der evangelischen Kirche die Besucher „Im Hunger die einen, und wir andern leben. Und wir andern leben, die im Hunger leben schlecht.“ Die Besucher des Gottesdienstes feierten das Zertifikat des Umweltmanagements ihrer Bayerische Kirche, den „Grünen Gockel“. Da hättest du sicher mitgesungen, auch wenn du mit Kirche nichts am Hut hast. Obwohl, für die meisten Murnauer bist du doch sicher nur durch deinen Hut bekannt. Fürsorge und Anerkennung, was Caroline Emke uns eben noch auf Seidls Bank sagte, das prägt doch auch deinen Freiheitsbegriff.
Das ist auch das Markenzeichen des Teams, das den „Grünen Gockel“ erreichte und ihn auch für ihre Kirchengemeinde erhalten will. Anreiz für die Klimaneutralität der Marktgemeinde? Das wäre doch die geschilderte benötigte politische Erzählung, die einlädt und nicht ausgrenzt, durch die andere Allianzen, andere kulturelle Mehrheiten gefunden werden.
Aus Seidls Bank tönt wohlwollendes Brummen. Er, der engagierte Gestalter Murnaus hatte ja schließlich der evangelischen Kirche zu diesem attraktiven Bauplatz verholfen. Er war es, der auch den Grund legte für Murnaus Wohnzimmer. Ein politischer Frühling in Murnau? „Schwer wird leicht“. Unter diesem Titel ist in der Postgasse eine Ausstellung zu sehen. Im Blog vom 2. November wurde sie für Mariä Verkündigung angesagt. Sie zeigt das Ergebnis eines Beschlusses des Gemeinderates. Stolz kann er auf diesen Beschluss sein. Vielleicht hilft ein gemeinsamer Besuch in der Postgasse, in der „Galerie auf Zeit“, sich daran zu erinnern, was in Murnau möglich ist, was Kunst, auf die man so stolz ist, vermag. Frühling im Gemeinderat?
* In einer spektakulären Inszenierung im April im Stadttheater Ingolstadt im April zu sehen.
** Eine politische Erzählung? Hier liegt er gedruckt vor, der Kern einer gesellschaftlichen Kraft zur Defossilierung und Innovation.
Luisa Neubauer, Dagmar Reemtsma
Gegen die Ohnmacht
Meine Großmutter, die Politik und ich
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2023
Für 24 Euro zu kaufen, zum Beispiel in der Buchhandlung Gattner, sicher demnächst auch auszuleihen in der Gemeindebücherei. Wurde mir zugesagt.
Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.