Vom menschlichen Holz und seiner Maserung

Das europäische Tischtuch
Verkehrszeichen der Gerechtigkeit
Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Ein kräftiger Schlag auf die Schulter, schwungvoll mit den Beinen über die Bierbank, die Augen blitzen, lautes Lachen, der Tisch wackelt, neben mich hat sich Ödön gesetzt. „Ich sitze gern am europäischen Tisch, auch wenn ich Europa fast Adieu gesagt hätte.“ Johannes Volkmann, der Initiator des Kunstprojekts hatte gerade seine pantomimisch begleitete Ansprache begonnen, stabilisiert zwei Hölzchen zwischen seinen Zähnen, baut einen Turm vor seinem Mund auf.

Wir hören, dass wir zwar alle aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, wenn auch anders gemasert. Der Bau wächst, Hölzchen werden quergelegt, stabilisieren den Bau, das Sprechen wird schwieriger, nicht aber das Verstehen. Das Verständnis für die Metapher von der Menschenwelt, die da vor Johannes Mund entsteht, so manches Hölzchen liegt quer, es wächst mit unserer Begeisterung. Der Blick auf das Tischtuch macht klar: Der Turm muss stabilisiert werden. Auf der 4. Gipfelkonferenz der Kinder 2021 in Nürnberg hat Volkmann seine sechste Gesellschaftsinszenierung begonnen: Verkehrsschilder der Gerechtigkeit. *

Fünfzehn Meter ist das Europäische Tischtuch inzwischen lang und es soll bis 2025 viel länger geworden sein, wenn es in Brüssel ausgelegt wird. Was im Straßenverkehr gelungen ist, eine internationale Bildersprache, dazu haben Kinder und Jugendliche acht Schildermotive entwickelt. Während 2022 auf Schloss Elmau im Wettersteingebirge der bayerischen Alpen die Staats- und Regierungschefs der G7 unter sich über uns tagten, wurden in den neun Dörfern im Blauen Land vor dem Wetterstein öffentlich, mahnend, die neu entstandenen Verkehrsschilder der Gerechtigkeit ausgestellt: Was wir von den Tagenden erhoffen, was uns taugt.

Die neun Bürgermeister übernahmen die Ausstellung und sie sitzen jetzt auch um das Europäische Tischtuch, auf dem zu sehen ist, an welchen sinnstiftenden Orten die Schilder bisher dauerhaft aufgestellt sind. „Wunderbar“ murmelt Ödön strahlend neben mir. „Wunderbar, dieses Projekt, das den Gedanken der europäischen Vielfalt stärkt, und das wurde in einem Land entwickelt, um das ich vor sechsundachtzig Jahren noch herumfahren musste, um von Prag nach Paris reisen zu können.“

Ja, Ödön, am 9. Juni steht sie wieder zur Wahl, die Freizügigkeit, die Maserung des Holzes, aus dem wir geschnitzt sind, sie ist doch oft widerspenstig. Auch bei Johannes ist der Turm schließlich eingestürzt. In Berlin haben sie jetzt Geburtstag für das Grundgesetz gefeiert, 75 Jahre, bestes Opaalter: weise, gereift. Die Würde des Menschen ist unantastbar. So beginnt es. Der Beginn hat Folgen. Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, die Grundlage für Gerechtigkeit in der Welt.

Mit 88 Jahren ist die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer wieder nach Deutschland zurückgekommen, mit 102 Jahren hat sie beim Staatsakt zum Geburtstag des Grundgesetzes dessen ersten Satz vorgelesen. Schaudern lief über den Rücken. Ja, Ödön, das Grundgesetz ist ein Geschenk. Wir müssen aber alle dafür etwas tun, dass es lebendig bleibt. Margot Friedländer tritt heute noch in Schulen auf, reicht Jugendlichen die Hand: Was war, können wir nicht ändern. Es darf nur nicht wieder geschehen. Seid Menschen. Ihr habt es in der Hand.

Auf dem Demokratiefest in Berlin hat die Initiative „DNA of Democracy“ dem Bundesjustizminister ein Tintenglas überreicht. Forscher haben Millionen Kopien des Grundgesetzes in menschliches Erbgut übersetzt und zu einer Tinte verarbeitet. Die Idee dahinter: Die zu unterzeichnenden Gesetze treten auch im Namen des Grundgesetzes in Kraft. Die Süddeutsche Zeitung hat die Idee aufgegriffen, hat ihre Sonderedition zum 75. Jahrestag mit Tinte aus solch künstlicher DNA gedruckt.

Ja, mein Lieber. Seid Menschen, hat eure Margot Friedländer gesagt. Und der euch gerade besuchende Macron hat in seiner letzten Rede stolz gesagt, dass Europa kein Supermarkt sei, dagegen ein Ort der Werte und Kultur. Darum eine Festung? Um eure Maserung zu retten? Ich wüsste einen sinnhaften Platz für die acht Verkehrzeichen: Die Grenzübergänge nach Europa. Ein Beispiel, wie Gerechtigkeit in die Welt einkehren könnte. Kühne Antwort, lieber Ödön.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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