Ödön auf der Seidlbank
An jedem ersten Mittwoch im Monat, lockere und alltagsphilosophische Gedanken zu den letzten vier Wochen.
Wirklich genüsslich, Seidl, deine Bank. Wenn ich das Tagblatt weglege, meine Arme in Horváth Pose auf die Rückenlehne lege, unter meinem Hut in die Sonne blinzle, einfach herrlich.
Die Fantasie ist ein Fluchttier. Und das Prachtstück, auf dem ich jetzt sitze, hat der Adelberger, der Schreiner aus Neu Egling nach einem Foto nachgebaut. So eine Bank soll an der Seidl Villa gestanden haben, 1901 gebaut. Sagte mir Wilhelm Müller, der Vorsitzende vom Verschönerungsverein, der Verein, der den Nachbau in Auftrag gab. Seit 1868 gibt es den Verein, verschönernd wirkt er bis heute. Und doch musste ein Seidl und sein „Verschönerungsverein“ kommen, dass Murnau so attraktiv wurde, dass Horváths Eltern hier hängen blieben. „Nicht hier, Ödön, in der Parallstraße“. murmelt es plötzlich neben mir. „Darf ich deinen ungarischen Vornamen ins Deutsche übersetzen? Wenn du schon auf meiner Bank sitzt, Edmund passt besser zu Emanuel. So wurdest du ja auch getauft, so heißt ja auch dein Vater. Edmund, der Beschützer des Erbes.“
Was höre ich? Verwundert reibe ich über meine Ohren. Träume ich? Reibe die Augen. Nein, über der Mariensäule der gewohnte Kistenblick, meine Füße stehen auf dem gewohnten Pflaster der Fußgängerzone. Ich stehe im realen Murnau. Es reicht die Seidlbank, um in eine andere Welt zu kommen: Vertikal denken. „Mein Landhaus, zwar denkmalgeschützt, haben sie 1972 abgerissen, eure Villa, Edmund, ein Jahr später, obwohl sie, äußerlich zumindest, intakt war. Warum, fragst du? Schau dir doch an, was heute alles auf der Bahnhofstraße 19 steht. Immobilien als Geldanlage, Geld als Fundament für Macht.“
Auf Seidls Bank in Ödöns Hülle geschlüpft, setzt bei mir das vertikale Denken ein.
Eigentum verpflichtet. Meine Füße auf den Pflastersteinen, die vor 22 Jahren hier für Fußgänger gelegt wurden. Was ist da wohl heiß diskutiert worden, gestritten, geschimpft von den Eigentümern, die hier wohnten, lebten, hier ihr Geschäft, ihren Laden betrieben. Wie setzten sich wohl diese Diskussionen fort, als das Projekt Fußgängerzone es in den Gemeinderat schaffte. Am 11. Dezember 1997 war der Beschluss gereift, wurde er einstimmig angenommen, so lese ich in Hruschkas Beitrag zur Geschichte des Marktes Murnau. Einstimmig. Das gab es also noch vor 22 Jahren. Auch, dass das einstimmige Votum umgesetzt wurde. Anders als im letzten Jahr, wo es darum ging, das Umspannwerk zu verlegen. Eine einmalige Chance für Murnau. Von allen erkannt. Darum wieder Einstimmigkeit. Aber dann spielten die Grundeigentümer nicht mit, so titelte das „Tagblatt“. Die Pressemitteilung des Rathauses nannte das Warum: „Grunddienstbarkeiten“ ließen sich nicht beschaffen. Was für ein Wort. Die einmalige Chance war weggeblasen.
Wofür hat ein Grund zu dienen, fragt sich der, der auf der Seidlbank sitzt? Und an den denkt, der auch Edmund heißen könnte? Seidl und Horváth. Ihre Häuser haben wir verloren, zum Glück aber nicht vergessen, was sie hier taten. Ihre Taten, nicht zu übersehen. Seine Wohltat, von hier, auf seiner Bank, die bunte Häuserzeile. Dem anderen Edmund, dem Ödön dagegen, hat man als Untat zugeschrieben, dass man sich selbst auf der Bühne sah und erkannte. Murnau, sein Stofflieferant. Dabei hatte er doch kein anderes Bestreben als die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist.
Ich schaue auf den ausgedünnten Besucherstrom der Fußgängerzone. Ist das schon die befürchtete Verödung, beginnen die Geschäfte zu verwaisen? Klimakrise, Coronakrise und jetzt auch noch ein Krieg. Wo bleibt das Fluchttier Fantasie, um einen Ausweg aus den Krisen zu finden? Ist das die jetzt so oft zitierte Zeitenwende, in Murnau zu sehen? Eine neue Welt entsteht und wir können täglich dabei zusehen. Lebt jetzt die Doktrin der Einflusssphären wieder auf? Einmischen verboten.
Dabei leben wir in einer Zeit, in der die Weltprobleme eigentlich nur gemeinsam zu lösen sind: Klima, Energie, Ernährung, Gesundheit. Keine guten Aussichten. Und doch, das Gemeinsame ist auch hier zu sehen: Kinder der James-Loeb-Schule verpacken Spenden für die Sammelstelle in der alten Post für die Initiative „Das Blaue Land hilft!“ Neun Kommunen rund um Murnau haben sich für diese Aktion zusammengeschlossen. Die Gemeinden und die Menschen in ihr. Der Murnauer Patryk Chmura organisiert mit 15 Freiwilligen einen Hilfskonvoi mit vier Kleinbussen und zwei Autos an die polnische Grenze mit Hilfsmitteln, die zwei Garagen füllten. Auf der Rückreise saßen dann 27 Menschen aus der Ukraine, für eine Zeit dem Krieg entflohen. 23 Menschen sind in 8 Gastfamilien in Großweil untergekommen. 2 Bürgermeister kamen mit 16 aus Korczowa an der polnisch-ukrainischen Grenze zurück. Über 100 sind jetzt schon im Blauen Land privat untergekommen. Kleine Zahlen gegen die 4 Millionen, die insgesamt auf der Flucht sind. Das Blaue Land muss darum noch lange nicht umbenannt werden. Aber ein großes Zeichen für die Solidarität der Menschen, gegen das russische Z des Krieges.
Ach, Ödön, du Hüter des Menschseins, was hast du deine Ada Freifrau von Stetten in deinem ersten Bühnenstück „Zur schönen Aussicht“, sagen lassen? Ich bin nämlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu. Das wäre doch eine Aussicht, wenn wir öfter dazu kommen würden, Mensch zu sein, statt das Propaganda – Z in die Welt zu blasen.
„Horváth auf der Seidlbank“ zum nächsten Mal wieder am 4. Mai 2022.
Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.