Fröstelnd geht die Zeit spazieren

Das Siegel „Kinderfreundliche Kommune“
Das Jugendwort 2023
Die Jugend, unsere Zukunft

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken zu den letzten vier Wochen

Hast du’s gelesen? Murnau will kinderfreundlicher werden. Ödön wedelt mit dem Tagblatt. Ich weiß, Murnau sucht ein neues Siegel. Als „Fair Trade Town“ ist Murnau ausgeschieden. Was 2015 jubelnd begann endete nach sieben Jahren. Zu wenige Mitstreiter aus der Zivilgesellschaft, der Politik, der Wirtschaft. Bis 2028 gehört Murnau noch mit 92 anderen in Bayern zur fahrradfreundlichen Kommune. Danach ist aber eine Rezertifizierung fällig. Eine schriftliche Anfrage im Landtag bestätigt: Murnau hat auch das Siegel „Kommunale IT-Sicherheit“. Dann weiter ein fröhliches Siegelsammeln für ein attraktives Murnau.

„Wenn ich nur wieder in Murnau sein könnte.“ Was ich da geschrieben habe, ich lese es immer wieder. Und womit will Murnau das Siegel „Kinderfreundliche Kommune“ einsammeln? Ödön, da ist nichts einzusammeln. Schau auf die Überschrift deines Artikels. „Gemeinde will kinderfreundlicher werden“. Der Hauptverwaltungsausschuss hat Interesse am Siegel. Analysen sind geplant. Schon an den Wörtern erkennst du den langen Weg, der zu gehen ist. Also nichts Konkretes? Vielleicht die Meldung im letzten Marktboten: „Vollintegrative Skateanlage“. Wenn alles gut geht, wird sie im Juni 2024 eröffnet. Und das Besondere dieser Meldung: Die Anlage geht nach einer gescheiterten Onlinepetition von einer Umfrage der Kinder- und Jugendvertretung aus, ein politisches Gremium, das ein Antragsrecht im Marktgemeinderat hat.

Ihr überraschendes Ergebnis: Ein Skatepark ist Jugendlichen wichtiger als ein Schwimmbad. Überraschend? In einer Skateanlage sind Jugendliche unter sich, sind sie in ihrer Welt. Ich denke, Ödön, hinter der Realisierung des Projekts steht auch das erschreckende Ergebnis der U18-Landtagswahl 2023, wo doch sechzigtausend Kinder und Jugendliche in über sechshundert Wahllokalen in Bayern der CSU die meisten Stimmen gaben, aber, da kommt der Schock, gefolgt von der AfD. Sie hat ihre Stimmen fast verdoppeln können. Die Grünen wurden zu den großen Verlierern mit rund 10 Prozent.

Von einer anderen Wahl, lieber Ödön, will ich dir noch erzählen. Im Oktober wurde auch das Jugendwort des Jahres 2023 gewählt. Auf der Buchmesse in Frankfurt wurde es live verkündet. Auf der Website des Verlags Langenscheidt wurden die Vorschläge gesammelt, eine Jury hat sie ausgewertet. Drei Begriffe blieben zur erneuten Wahl. Gewonnen hat das Schimpfwort Goofy. Das englische Adjektiv bedeutet dämlich, albern, beschreibt tollpatschiges, unbeholfenes Verhalten.

Holen wir uns doch die Ukrainerin Oksana Havryliv auf die Bank. Seit 2006 forscht und lehrt sie als Sprachwissenschaftlerin an der Universität Wien, beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem Schimpfen, hat darüber promoviert und im Oktober 2023 ist ein Buch von ihr erschienen mit dem herausfordernden Titel „Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen.“* Und wie verkauft es sich? Nicht schlecht. Wer möchte schon ein Depp sein. „Schimpfen, Fluchen und Verwünschen sind Formen verbaler Aggression mit kathartischer Wirkung. Man befreit sich. Schimpfen ist meist auch keine Beleidigung, oft scherzhaft gebraucht. Bei der engsten Auswahl des Jugendwortes 2023 dominieren zwar abwertende Begriffe. Bei Jugendsprachen geht es aber eben generell um die Zugehörigkeit zur Gruppe. Und Schimpfen liefert so ein Gefühl. Mit „Smash“, im letzten Jahr gewählt, benennt ein Jugendlicher eine Person, mit der er etwas anfangen kann. Verbale Aggression hat bei Jugendlichen auch die Funktion der Provokation. „Deine Mutter ist so fett, wenn sie hochspringt, bleibt sie in der Luft kleben“. Solche Formen verschwinden dann aber mit dem Erwachsenwerden. Auffallend in der Jugendsprache ist die Herkunft aus fremden Sprachen, dem Englischen meist, aber auch aus dem Türkischen oder Arabischen. Jugendliche leben in der Schule und in ihrer medialen Welt wie die der Computerspiele multikulturell.“

Ja, Ödön, die Jugend. Das ist unsere Zukunft. Müssen wir doch mal über das Wahlrecht der Sechzehnjährigen nachdenken? Bei der Europawahl im nächsten Jahr dürfen sie ja teilnehmen. Nun, ab 14 sind Jugendliche religionsmündig. Sie können sich für einen Gott entscheiden. Wenn sie mit 16 eine Ausbildung beginnen, müssen sie Steuern bezahlen, dürfen aber nicht mitbestimmen, für was ihr Steuergeld verwendet wird. Wenn wir Klimaneutralität nicht erreichen, haben Jugendliche eine dunkle Zukunft. Was aber ist der Satz wert, dass die Jüngsten unsere Zukunft sind. Was kostet dieser Satz und wer bezahlt dafür? Kinderförderung bekommt ein Preisschild. Jedes fünfte Kind wächst in einer armutsgefährdeten Familie auf. Die Situation verschärft sich durch Inflation, Corona-Krise und Mieten. Deutschland gab im letzten Jahr 46 Milliarden für Kindergeld aus. Und trotzdem: Armut vererbt sich. Man muss Kindern eine bessere Zukunft geben. Auch jenen, die in ärmeren Familien leben.

Roland Preuß, Redakteur im SZ-Parlamentsbüro in Berlin zählt auf, was dazu gehört. „Dass die Familie genug Geld hat, damit der Sohn ein Geschenk kaufen kann, für das er sich auf dem Geburtstag nicht schämen muss. Dass es sich die Tochter leisten kann, mit der Freundin ins Theater zu gehen. Dass beide einen Internetanschluss nutzen können, damit sie nicht vom Online-Unterricht oder Video-Call mit den Kumpels ausgeschlossen sind.

Bessere Zukunft für Kinder bedeutet fairere Aufstiegschancen für alle. Dazu gehören auch staatliche Hilfsangebote an Schulen in sozial abgehängten Vierteln. Dazu gehört ein Schüler Bafög. Dazu gehört eine bessere Kinderbetreuung, damit Vater und Mutter wieder in den Beruf einsteigen können. Sprachkurse, um Zuwandererfamilien den Ein- und Aufstieg zu erleichtern. Dazu gehört die dauerhafte Lösung: Gute Arbeit für Väter und Mütter, ein Einkommen, von dem die ganze Familie leben und das die Kinder fördern kann.“ Ja, Ödön, soviel Roland Preuß. Aber trotz unserer Schuldenberge, eine Verfünffachung der Kinderarmut, die wäre skandalös.

Ödön, lassen wir uns nicht vom sonnigen Oktober blenden. Fröstelnd geht die Zeit spazieren. Und so beendet mahnend Erich Kästner sein Oktobergedicht: Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung. „Stirb und werde!“ nannte er’s. **

* Oksaana Havryliv, Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen, Verlag Peter Lang, Berlin. 224 Seiten, 22 € in der Buchhandlung Gattner oder über Fernleihe der Gemeindebücherei Murnau

** Erich Kästner, Die 13 Monate, Ein Gedichtzyklus, Atrium Verlag 1955 oder bei dtv oder im Kästnerbestand der Gemeindebücherei

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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