Auf dem Holzweg?

Murnau, die siegelfreundliche Kommune
Menschen werden nicht mehr als Menschen gesehen
Neuer Fortschrittsbegriff

Ödön auf der Seidlbank

Lockere und alltagsphilosophische Gedanken über die letzten vier Wochen

Schau Ödön, die Stöpsel, die da mit ihren Schulranzen durch die Fußgängerzone nach Hause stapfen. Für ihre Zukunft hat Murnau jetzt einen Vertrag unterzeichnet: Sie will das Siegel „Kinderfreundliche Kommune“ erwerben, als achte Gemeinde in Bayern.

Nicht schlecht, wenn ich denke, dass nicht nur in Murnau der Altersdurchschnitt hoch ist. Hattet ihr nicht schon das Siegel „Faire Gemeinde“? Ja, Ödön, leider nicht mehr. Es gab zu wenige Mitstreiter aus der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Ein Einewelt-Laden ist zu wenig. Nötig ist eine beständige und aktive Steuerungsgruppe. So hat man eine erneute Zertifizierung aufgegeben. Aber das Siegel „Fahrradfreundliche Kommune“ tragen wir noch mit 93 Gemeinden in Bayern, zumindest bis 2028. Dann muss es rezertifiziert werden.

Und was ist mit den sechsundfünfzig Seiten eines Mobilitätskonzepts, von dem ich gelesen habe? Ja, Ödön, viel Papier. Aber von den vierundzwanzig Maßnahmen in Phase 2 haben zwei Mitarbeiter des Bauhofs der Marktgemeinde aus dem Plan eine Fahrradgarage am Bahnhof gemacht. Zehn Fahrradboxen, abschließbar, sichern die Treter vor Wetter und Dieben. Donnerwetter, mein Lieber. Und weil wir gerade unsere Zeitungslektüre austauschen, die Skateanlage fällt dann wohl auch unter das Siegel „Kinderfreundlich“? Und ob, Ödön. Sie wird zwar teurer, aber sicher in diesem Jahr noch eröffnet. Von Jugendlichen angeregt, vom Gemeinderat einstimmig gestützt, das heißt was, Ödön, wird es das Siegel zum Blinken bringen.

Barrierefrei der Zugang, auch die Bahnen mit dem Rollstuhl befahrbar, also das Projekt wunderbar mit dem Gedanken der Inklusion verbunden, was willst du mehr? Ödön schaut auf die fetten weißen Wolkenbatzen. Gut, dass du nur deine Augen, wie gewohnt, auf den Himmel gerichtet hast und nicht deinen rechten Zeigefinger. Ja, der „tauhid“- Finger. Der arme Antonio Rüdiger, ein praktizierender Muslim, der auch noch Fußball spielt. So eine aufgeblähte Hassdrohne eines Journalisten schafft es dann in die Abendnachrichten mit einem Nachhilfeunterricht des Innenministeriums: Diese Geste ist kein Sicherheitsrisiko. Sie ist ein Glaubensbekenntnis im Islam auf der ganzen Welt für die Einzigartigkeit Gottes. Unglaublich, diese Hysterie.

Menschen werden nicht mehr als Menschen gesehen, Ödön. Remigration ist das Unwort des Jahres 2023 gewesen. Wir haben inzwischen auch verbal ziemlich aufgerüstet. Denk nur an Klimaterroristen oder Heizungsstasi. Oder an die Protestwut, die sich auf den Plakaten bei Demos zeigt, Galgen, an denen Politiker baumeln. Tabus werden ausgetestet. „Das kann man doch jetzt mal sagen.“ Wir holen uns mal den Soziologen Andreas Reckwitz auf unsere Seidlbank, Professor in Berlin für Soziologie und Kulturwissenschaft. Im März feierte er seinen vierundfünfzigsten Geburtstag.

„Vor allem hat die Fortschrittsorientierung an Glaubwürdigkeit verloren. Die Wissenschaft selbst prognostiziert ja problematische Zukünfte, etwa klimatische Kipppunkte. Verluste werden präsenter. Verlustbezogene Praktiken florieren in unserer Gesellschaft. Die bearbeitet gerade der rechte Populismus mit Rückkehrfantasien. Das zeigen politische Schlagwörter: „Make America great again“. „Take back control“. Wir holen uns Deutschland zurück“. Einen neuen Fortschrittsbegriff zu etablieren, etwa ökologische Nachhaltigkeit miteinzubeziehen ist möglich, wenn in ihm Resilienz als Ziel wesentlich wird.“ *

Anpassungsfähigkeit, Ödön du hast sie erworben. Ja, mein Lieber, wandere mal ins Exil, von Deutschland nach Österreich, von dort in die Schweiz und nach Frankreich, in der Hoffnung, Europa verlassen zu können. Nicht die alten Wege der Stundentafel einfach weitergehen, das fordert auch Harald Lesch, der Münchner Astrophysikprofessor ausgerechnet von Bayerns Kultusministerin. Ein neues Pisa-Konzept wird verlangt, weil die deutschen Grundschüler in der jüngsten Studie in Deutsch und Mathematik zu schlecht abgeschnitten hatten. Also mehr Stunden für die zwei Fächer, dafür Kunst, Musik und Werken zu einem Verbundfach zusammenlegen.

Das ist Quatsch, erlaubt er sich als Kommentar. Immer mehr vom immer Gleichen bedeutet nicht gleich mehr. Das gilt auch fürs Üben. Die zu übenden Aufgaben müssen mit dem Leben der Kinder zu tun haben. Entscheidend ist, wie interessant die Stunden sind. Gerade in der Grundschule haben Kinder noch den Enthusiasmus, den sie in kreativen Fächern ausleben. Und Kreativität ist wichtig, weil für die großen Veränderungen, vor denen wir stehen kreative Köpfe gebraucht werden. Kreativität ist das, was über einen hinausweist. Und für die Klassenlehrer der Grundschulen ist es möglich, das verkopfte System aufzubrechen. Zur Kreativität der Kinder kommt die des schulischen Personals. Ödön, schauen wir auf deinen Zeitgenossen, Erich Kästner. Er feiert dieses Jahr seinen 125. Geburtstag. Sein Blick auf die Menschheit?

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund den Fortschritt der Menschheit geschaffen. Im Grund sind sie noch immer die alten Affen. Und was wirst du, mein Lieber in zwei Jahren von mir zitieren?

* Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, edition suhrkamp, 20 €.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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