… Heuhocken in Murnau … Kunst ist ein Haus … Rückwärts gehen
Ödön auf der Seidlbank
Und morgen nach Murnau! Das hättest auch du schon schreiben können, Emanuel. Vielleicht an Max Reinhardt, mit Fragezeichen. Kommst du, um mit deiner Truppe den „Sommernachtstraum“ zu inszenieren? In meinem Park, in meinem gelobten Land? Ich streiche über Seidls Bank. „Aber das schrieb doch der Kandinsky an seine Münter. Diese Expressionisten wollten mit der Münchner Kunstszene mit Typen wie Franz von Stuck nichts zu tun haben.“ Ich schmunzle zurück. „Oder ihr nicht mit ihnen. Immerhin hast du ihnen mit deinen farbenfrohen Fassaden reichlich Motive für ausdrucksstarke Bilder geliefert.“
Ich bitte Brigitte Salmen zum Gespräch, die Frau, die das ja viel besser weiß. Sie hat schließlich das Konzept für das Schlossmuseum entwickelt. Und als der Gemeinderat beschloss, es umzusetzen, welch weiser, folgenreicher Beschluss, hat sie es 1991 als Leiterin eröffnet. Welche Entwicklung, welchen Ruf gewonnen. Die jetzt gezeigte Ausstellung „Meisterwerke von Gabriel Münter und Wassily Kandinsky“ belegt das. „Und morgen nach Murnau!“, der immer wiederkehrende Lockruf Kandinsky in seinen Briefen an Münter trägt sie als Titel.
Und Brigitte Salmen neben mir packt mit sanfter Stimme aus. „Mit diesen schlichten Formen und Farbklängen, zum Beispiel in dem Bild Murnau-Untermarkt 1908 entstanden, hat Kandinsky neue Ausdrucksformen gefunden, die nicht mehr die äußere Erscheinungswelt wiedergeben, sondern dem eigenen Gefühl folgen. Das Bild sollte auf das Empfinden des Betrachters wirken.“
Der Horváth in mir meldet sich. „Es war ja nicht nur das bayerische Oberland, das mich als Landschaft faszinierte, es war nicht die Marktstraße, durch die ich wie in einem aufgeschlagenen farbigen Bilderbuch hindurch wandelte. Es waren die Menschen, die besseren und die einfachen Leute, denen ich in den Wirtschaften, Biergärten, Ausflugscafés zuhörte.“
Das Empfinden Wassilys, sein Gefühl in Farbe und feste Konturen zu packen, wird also bei Ödön, so denke ich weiter, durch genaues Hören und Unterscheiden der Sprache der besseren und einfachen Leute zum Mittel, das Bewusstsein, die geistige Welt der Menschen darzustellen. Über die Sprache konnte er Verhaltensweisen charakterisieren, die den raschen Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigten.
Aus der Bank brummt Emanuel. „Mal wieder schlau dahergeredet. Ödön hatte dafür eine andere Sprache gefunden“. Ich akzeptiere, erinnere mich an Horvaths „Bergbahn“, den Kampf zwischen Kapital und Arbeitskraft. „A jede Schraubn werd zum Wunder der Technik, a jede Odlgrubn zur Heilquelle. Aber daß aner sei Lebn hergebn hat, des Blut werd ausradiert.“
Zurück zur Ausstellung. Ich wechsle von der Seidlbank auf die harte Bank in ihrem ersten Raum vor der herausgehobenen grünen Wand. Hier hängt der Anlass, das lange verschollene Gemälde Treppe zum Schloss. In einer Versteigerung bot sich die Chance, es nach Murnau, an den Ort, wo es Kandinsky entstehen ließ, zurückzuholen. Und ich kann jetzt genießend vor Bildern stehen, die ich vor Ort noch nie gesehen habe. Ja, sogar der Ort selbst tritt auf, so wie ihn die Künstler selbst zu ihrer Zeit erlebt und gesehen haben. Mit Raffinesse sind in der Ausstellung zwischen die Gemälde die Meisterwerke des Fotografen August Pöltl gehängt, der seit 1919 über mehr als sechzig Jahre ein etabliertes Fotoatelier etablierte und damit auch die Zeit und die Malorte der Blauen Reiter festhielt.
Brigitte Salmen nickt. „Für Münter wie für Kandinsky war die Fotografie ein vertrautes Medium. In Murnau wurden dann aus den Fotos der großflächigen Höhenzüge der Voralpen, aus der Farbigkeit der Gebäudefassaden in wenigen Wochen Gemälde im expressionistischen Stil. Reduzierte Grundformen, leuchtende kontrastreiche Farben, das Markenzeichen der Blauen Reiter war entstanden.“
Ich denke zurück an das nach Murnau zurückgekehrte, das die Ausstellung auslösende Gemälde an der grünen Wand im ersten Saal, an die vielen Münters, die es begleiten. Ich hole Sandra Uhrig mit auf die Seidlbank, die jetzige Leiterin des Museums. Begeistert erzählt sie über Heuhocken in Munau. 1909. „Diese Strahdrischen waren ein die Landschaft prägendes Phänomen. Immer wieder hat Gabriele Münter das Motiv verewigt. Hier arbeitet sie die wie geduckt wirkende Anhäufung des gemähten Schilfs heraus, das ein Bauernhaus schützend umgibt. Gleichzeitig ist Münter an den Lichtreflexen der Heustruktur interessiert, gestaltet sie mit einer großen Farbpalette.“
Es fällt schwer, das Schlossmuseum zu verlassen, doch jetzt hinein in das Murnau, der Lockvogel vieler Gäste, auch als der Kunstort im Blauen Land. Vielleicht zu einem der Kunstwirte, Markenzeichen Kunst und Kulinarik, zu Schlutzkrapfen mit lauwarmen Linsendressing?
Ich streife an meiner Seidlbank vorbei, werde von Emanuel festgehalten. „Geh in mein Gloriettl, mein Badehaus, mein Lieblingsplatz, vor wenigen Jahren rekonstruiert.“ Ich gehe und stehe schließlich am Weiher im Seidl-Park vor diesem Schmuckstück, schlicht und doch ein echter Seidl-Bau, wie Dieter Wieland, der Motor der Renovierung, ihn beschreibt.
Ach, was verdankt Murnau solchen Motoren des Bewahrens. Dank Wieland bewahrt es jetzt ein fragiles Kunstwerk vor Regen und Wind, Hans Angerers „Kunst ist ein Haus“, sein Beitrag zu „neu gedacht“, dem Kunstprojekt von 22 Kunstschaffenden aus dem In- und Ausland. In ihm versammeln sich Arbeiten, entstanden als Reaktion auf die letzten zwei Pandemiejahre.
Ja, neu zu denken ist viel in dieser Zeit, in der man am liebsten kreischend ins Bett kriechen möchte. Da sind Autokraten. Da ist immer noch Pandemie, ist immer noch die Klimakrise, auch wenn das keiner mehr hören will. Ein legislativer Rechtsruck. Es droht Putin, aber auch die Wiederkehr Trumps. Auf der Erde kulminieren die Krisen, aber im Weltall fängt das James-Web-Teleskop atemberaubende Bilder ein. Hilft das, der Menschheit ein Kopf hoch zuzurufen? Das anderthalb Millionen Kilometer weit ins All geschickte Teleskop, eine gigantische Forschungs- und Ingenieurleistung. Aber wir schaffen es nicht die Ausbeutung großer Teile der Welt auf der unser Reichtum beruht, nicht mehr fortzusetzen, sehen nicht, dass man aus moralischen und politischen Gründen sie auch nicht mehr fortsetzen kann.
Mit diesen Gedanken stehe ich vor Angeres fragilem „Kunst ist ein Haus“. So kann man auch also auch mit Zeitungen umgehen. Die Seiten herausreißen, mit Schere und Messer Artikel ausschneiden. So wie ich. Dann Archivieren. Aber was Hans Angerer da zweieinhalb Jahre getrieben hat, Sätze auszuschneiden, in denen Kunst vorkommt, das nähert sich einer Obsession. Diese Funde auf 32 Papierbögen kleben, auf transparente Folien übertragen und in ein spitzgiebeliges Haus verwandeln.
Es ist gut über Kunst nachzudenken, wenn man so von Kunst umgeben ist. Ja, Kunst ist das Haus. Das kann man behaupten. Aber auch ergänzen? Sicher ist: Seit die Menschen begannen, differenzierter zu denken, sind sie von Kunst umgeben. In diesem Juli ist in Murnau die Kunst zu Hause. Erlebbar.
Wenn zum Beispiel Maria Berauer in ihrer Performance als Beitrag zu „Neu gedacht“ rückwärts durch die Fußgängerzone geht. Ein Fuß hinter dem andern. Sich rückwärts bewegen. Fortschritt rückgängig. Ein Perspektivwechsel. Und gleichzeitig rinnt ein feiner Sandstrahl aus dem Rucksack und legt eine Spur. Eine Spur aus unserem Fortschrittswahn?
Nachdenklich gehe ich zu Seidls Bank zurück, klopfe Emanuel meinen Dank zurück für die erhaltene Kunstlektion. Du besuchst Kunst und kommst zu dir selbst. Du hast recht, Ödön, Denken tut weh. Ich denke dabei an Boris Johnsons Abschiedsrede vor den ihn bejubelnden Torys, die gerade für seinen Abschied gestimmt hatten, an sein Terminator-Zitat: Hasta la vista, baby. Droht er tatsächlich mit seiner Wiederkehr?
Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.