Überflüssig. Fortschritt. Gemeinwohl.

Horváth. Seidl.
Camus: Sinnlichkeit des Augenblicks.

Ödön auf der Seidlbank

Hast du gehört, mit Beginn des neuen Jahres hat die Post den Versand von Telegrammen eingestellt? Schade, kommt von Ödön zurück. „War ein wichtiges Kommunikationsmittel in unserer Familie. Herzerwärmend auch für mich ein Telegramm wie dieses: stück angenommen stop vertrag kommt stop.“ Ja, stop ersetzte in der Telegrammsprache den Punkt. Um Autos oder Redefluss anzuhalten, gebrauchen wir nach 1996 und der Rechtschreibreform das Wort Stopp. Telegramme sind also überflüssig geworden, aber dafür haben wir ja heute Handys, SMS oder Whatsapp und setzen Emoji für ganze Sätze ein. Das wird Fortschritt genannt. Wann werden sie dann überflüssig, vom Fortschritt überholt?

Aus der Seidlbank kommt ein kratziges Knurren. „Fortschritt? Überflüssig? Denk an mein Landhaus in Murnau. In meinem Testament habe ich festgelegt, dass es als Gesamtkunstwerk erhalten bleiben sollte. Aber als dann Marie, meine Frau und Alleinerbin, kinderlos starb, da haben die Nichten und Neffen 1936 nicht besseres gewusst, als das künstlerische Gesamtwerk, Gebäude und Inneneinrichtung in Geld umzusetzen. 175 000 Reichsmark auf der Bank waren wohl mehr wert als Anlage als ein Künstlervermächtnis. Das ist Fortschritt? Kunst hat halt im richtigen Leben keinen Platz, ist eben überflüssig.“

Das anfängliche Knurren ging mehr und mehr in eine die Gesellschaft anklagende Rede über. Da meldet sich Ödön wieder zurück. „Ich kann deinen Groll verstehen, Edi. Sicher, unser Haus in der damaligen Hindenburgstraße war kein Gesamtkunstwerk, aber es war neun Jahre lang mehr oder weniger mein Lebensmittelpunkt, nah den Bergen, die mich faszinierten, nah den Menschen, die hier lebten. Hier habe ich die Stoffe für meine Dramen gefunden. Mit dem Kleistpreis wurde ich dafür geehrt. Ich hing an diesem Ort. Doch 1933 verkaufte mein Vater unser Haus. Das politische Klima war ihm inzwischen unerträglich geworden. Mehrmals wechselten die Besitzer, bis es dann 1973 zum Spekulationsobjekt einer Immobilienfirma wurde. Die riss es ab und bebaute das Grundstück neu.“

Hausnummer 19 heute: Eine große Tafel zeigt, was aus der Siebenzimmervilla geworden ist: Eine Apotheke, ein Optiker, ein Reisebüro, drei Arztpraxen, drei Therapeuten, ein Heilpraktiker, Wohnungen. Kein schlechtes Geschäft für den Makler, aber doch auch gut angelegt für das Gemeinwohl. Eigentum verpflichtet steht in unserem Grundgesetz, Garant eines glücklicherweise geänderten politischen Klimas, Eigentum soll dem Wohl aller dienen. Auch der Gemeinderat hat 1945 die neue Zeit markiert. Das Horváth-Haus steht heute in der Bahnhofstraße. Ödön setzt nach. „Egal, wie die Straße heute heißt. Ich hing nicht nur am Ort, ich hing auch an dem Haus. Es war neun Jahre mein Kreativzentrum.“ In einer Welt, die vom materiellen Angebot und Nachfrage bestimmt wird, da zählen deine Emotionen nicht mehr, Ödön, da wird euer Haus verzichtbar, überflüssig, wie der Telegrammdienst, den die Post jetzt eingestellt hat. Immerhin steht vor der Horváth-Villa auch eine der 12 Informationstafeln eines literarischen Rundwegs mit der schlagwortartigen Überschrift „Ort der Inspiration“.

Immerhin ist in der Eröffnungsrede an deinem 116. Geburtstag über dich Bedeutendes zu hören: „Seine Werke sind soziale Zeitstücke moderner Prägung. Er hat unsere Kultur bereichert.“ Und in einer Broschüre eines P-Seminars im Staffelseegymnasiums zitieren sie Klaus Mann: „Er, Horváth, war ein Dichter, nur wenige verdienen diesen Ehrennamen.“ Du siehst, die vor zwanzig Jahren gegründete Horváth-Gesellschaft mit Gabi Rudnicki hat schon viel bewirkt in der Markt- und Schulgemeinde für die Pflege deines kulturellen Erbes. Chapeau! Ödön nickt zustimmend.

Seidl übernimmt den Ton. „Hut ab aber auch für die Müher um meine Vermächtnisse. Das ist vor allem Dieter Wieland und der Förderkreis Murnauer Parklandschaft. Das ist eine Gemeinschaft, in der jedes Fachgebiet vertreten ist, das wir zur Pflege meines Parks gebrauchen. Von der Försterin bis zur Landschaftsarchitektin, vom Schreiner- bis zum Gärtnermeister. Auch junge Leute engagieren sich, der Verein „Menschen helfen“ rückte mit Bohrer und Sägen an, um mein Badehaus am Originalplatz wieder aufzubauen, das Gloriettl. 2019, an meinem hundertsten Todestag war es so weit. Und als die Schindeln als Krönung auf dem Dach noch fehlten, Wieland fand einen Spender. Nach 13 Jahren hat nun seine Frau den Vorsitz übernommen. Sie wird jetzt mit ihm nach Ideen und Spendern suchen, um Geldbeutel großzügig zu öffnen.“ Günter Bitala titelte dazu im November 2021: Vereinsvorsitz bleibt in der Familie. Was Politik nicht schafft, das Ehrenamt hilft aus. Gemeinschaft sorgt für Gemeinwohl.

Jetzt aber wird es Zeit, Marie Luise Beyerbach auf die Bank in der Fußgängerzone zu holen, die Innenarchitektin, die es sichtlich genießt, auf Seidls Werk zu sitzen, weiß natürlich, das der Verschönerungsverein nach seiner Vorlage bauen ließ und gestiftet hat. Sie hat gerade an der Universität Buckingham in London ihren Master geschafft und dazu eine Arbeit vorgelegt, die Seidls Murnauer Landhaus als „verlorenen Kunstschatz“ beschreibt. In einem prächtigen Booklet*, seines Landhauses würdig, beschreibt sie mit neuen Funden den Verlust und den möglichen Gewinn, wenn der Seidlpark wenigstens wieder seine Mitte zurückgewänne. „Vor zehn Jahren war der Park noch in einem erbärmlichen Zustand. Ein Hundespielplatz. Es waren engagierte Bürger, die sich zum Ziel setzten, ihm wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Sie gründeten den Verein Murnauer Parklandschaft. Sehr viel wurde inzwischen geleistet. Sichtachsen freigeschnitten, Gartenarchitektur wie der Eiskeller oder der Freundschaftshügel saniert und eben auch das Gloriettl wieder aufgebaut.“

Um aber die vom Herrenhaus ausgehenden ursprünglichen Wege zu rekonstruieren, müsste man die Dimension und die genaue Lage der Gebäude kennen. Der Abriss damals war gründlich. Über die Sünde der Vergangenheit konnte viel Gras wachsen. Neue Messtechnik erleichterte die notwendige archäologische Arbeit, so erzählte mir Wieland. Sie bestätigte die Größe von Seidls Anwesen. Träume steigen in Beyerbachs
Booklet auf, Träume, die einen räumlichen Eindruck verschaffen könnten. Eine neu gepflanzte Linde, eine Informationstafel mit Fotos und Seidlzitaten, das sind doch karge Kennzeichen der Wertschätzung seines Gesamtkunstwerks. Der Realist Wieland aber: Erst einmal wird gegraben.“

Nachdenklich sitze ich allein auf Seidls Bank. Überflüssig. Fortschritt. Gemeinwohl. Plötzlich blitzt Camus auf. Verrückt, die Synapsenschaltungen im Hirn. Sätze aus seiner Rede zum Nobelpreis am 10. Dezember 1957 prasseln auf mich ein. „Künstler sind verpflichtet zu verstehen, nicht zu richten. Künstler stehen nicht im Dienst derer die Geschichte machen. Sie stehen im Dienst derer, die sie erleiden.“ Ich nehme das auf, denke weiter. Kann ich Künstler durch Mensch ersetzen? Der Dichter wie der Philanthrop bei mir nicken Zustimmung. Ernesto Cardenal, der Befreiungstheologe, klatscht und ergänzt: Der Mensch ist eine Erfindung der Liebe und wurde geschaffen zur Liebe.

* Das Booklet ist für 15 Euro bei Gärtnerei Benn oder über info@murnauer-parklandschaft.de zu beziehen.

Autor Dieter Kirsch

Mehrmals in einem Monat sitze ich mit Ödön von Horváth auf der Seidlbank vor dem Murnauer Rathaus. Das Ergebnis unserer Gespräche ist am ersten Mittwoch im Folgemonat hier zu lesen.

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